In Medien und Politik wird in Deutschland aktuell überreichlich "unsere jüdisch-christliche Kultur" betont. Der Wunsch bestimmt den Gedanken, denn über 35 Prozent der heutigen deutschen Bevölkerung ist konfessionsfrei - früher wurde "konfessionslos" gesagt. In dieser Gruppe finden sich viele Weltanschauungen: Agnostiker, Atheisten, Evolutionisten, freie Christen, säkulare Juden und Muslime, Freidenker, Humanisten oder einfach nur Gott- oder Nichtgläubige. Diese Menschen nannte man bis 1936 standesamtlich "Dissidenten". Das vorliegende Buch erzählt ihre Entstehungsgeschichte als Kulturvorgang, berichtet, warum und in welchen Variationen sie Glaubensfreiheit forderten, für die Trennung von Staat und Religion sowie von Schule und Kirche eintraten und was ihre Verbände politisch wollten und unternahmen. Die alten Überlegungen wirken bis in unsere Gegenwart. Sie gingen in die Weimarer Verfassung und von dort ins Grundgesetz ein. Auch lebensweltlich tradieren sie sich, geht es doch auch heute um Ethik-, Lebenskunde- und Religionsunterricht, Sterbehilfe, "geborene Verbrecher", "kulturelle Vererbung", "Hooligans" und um Humanismus. Auch jetzt wird gefragt, was die Interessen der Konfessionsfreien gegenüber den noch mächtigen Kirchen sind und wie sie sich organisieren sollten, um ihren Ansprüchen Gehör zu verschaffen. Da lohnt sich ein Blick in die Zeit, als die Konfessionsfreien noch Dissidenten hießen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur Neuauflage 2011
Zu diesem Buch
Biographische Anmerkung
Editorische Notiz
1. Kapitel: Weimarer Kartell - Kulturbund freidenkerischer Dissidenten
Säkularität heute: online zu Gott
Dissidenten: Abtrünnige der staatlich gestützten Konfessionalität
Weimarer Kartell und deutsche Freidenkerei
Pfungst und Rössler - Organisatoren der Kartellbewegung
Trine und Diederichs - Prototypen der Produktion von Weltanschauung
Henning - Koran-Übersetzer, Redakteur und Geschäftsführer
2. Kapitel: Freidenkerei - ein Kulturphänomen
Religion und Weltanschauung
Weltanschauung und Kultur
Kulturverständnis und Studium der Geschichte
Säkularisierung und Weltanschauungsvereine
Freidenkerische Kulturbewegung der Dissidenten
3. Kapitel: Das Weimarer Kartell - Vorgeschichte und Anfang
Freidenker: "grobe Indifferentisten ... und dergleichen Leute"
Schleiermacher und Hegel: Säkularität als Faktum
"Lichtfreunde" und "Deutschkatholiken": soziale Bewegungen im Vormärz
Freireligiöser Verbund: Kirche für "Dissidenten"
Zivilstandsgesetzgebung und Kulturkampf
Freidenkerbund: von der philosophischen Idee zur sozialen Bewegung
Spannungen: bürgerliche gegen sozialdemokratische Freidenkerei
Moritz von Egidy: "Ernstes Wollen" zur religiösen Erneuerung
Deutsche Kulturgesellschaft: Ethik als Religion
Ethische Vereine: Ersatzgemeinden und akademische Klubs
Innovation "weltlicher Seelsorge" und Kulturarbeit
Christusmythe und Freidenkerei
Deutscher Glaube ans Germanische: die andere Alternative
Akademisches Reagieren auf sozialpolitische Fragen
Giordano Bruno Bund: Verein der Übergänge
Kulturbund der Lebensreformer und Dissidenten
Lex Heinze und Zwang zur Kulturpolitik
Deutschland von Weimar aus erneuern
Gründung des Kartells "für freiheitliche Kultur"
Komitee Konfessionslos: Kirchenaustritt als "Massenstreik"
Bündnisse vor Ort: Kulturkartelle
Sozialdemokraten in der Freidenkerei
Religion als "Opium des Volks"
Zwischen Kirche als "Polizeistube" und "christlichem Sozialismus"
Proletarische Freidenker
4. Kapitel: Dissidentische Kulturansichten
Weltliche Schule und Moralunterricht: Lebenskunde statt Religion
Staatsbürgerkunde oder Moralunterricht
Freigeistiger Jugendunterricht für "Dissidentenkinder"
Verein für weltliche Ethik als Schulstoff
Lebenskunde als Schulfach und Sittenlehre
Forderungen und Kompromisse bis 1914
Bund für Mutterschutz: Neue Ethik und sexuelle Aufklärung
Mutterschutz wegen Rassenhygiene
Kontroversen um die "wahrhaft sittliche Ehe"
Eine Internationale für die "Hinaufpflanzung" der Menschheit
Monistenbund: Politisierung kultureller Ansichten
Haeckels Monisten zwischen Religion und Wissenschaft
Das Beispiel Haeckel: Entwicklungsgedanke und "Lebenswert"
Naturforscher, Monist und Theologe
Lösung der Welträtsel
Spartanische Auslese als Sozialprogramm
Die Ära Ostwald: Organisation der Geistesarbeiter
Monistische Lagerbildungen
Auslesephilosophie: Leistungsprinzip und organisierter Sozialdarwinismus
Schallmayer und Kammerer: Sozialpolitik auf biologischer Grundlage
Gerkan-Debatte über Euthanasie als aktive Sterbehilfe
Eugenik und germanophile Kulturtheorie
Glücksphilosophie: "Kulturbeherrschung" durch "Kulturwissenschaft"
"Menschenökonomie": Förderung von "Kulturkapital"
Euphorismus versus Rassenhygiene: Spaltung des Monismus
Frei-Geist-Sekten und freidenkerische Individualisten
Freimaurerbund Zur Aufgehenden Sonne: Bruderschaft der Freidenker
Mahãbodhi-Gesellschaft: Buddhismus und Freidenkerei
Steiners Anthroposophie
Die Horneffers: "Persönliche Religion" und "neues Heidentum"
5. Kapitel: Kultur als Prävention - Anfänge der "Soziokultur"
"Soziokultur" und "Kulturarbeit"
"Kulturstaat" und "Kulturpflege"
Missionierung der Unterschichten: Beginn der Kulturpädagogik
Settlements und Klubs: "Universitäts-Ausdehnung" als Kulturhilfe
"Sittigung" des Volkes durch Erziehung zum Kunstgebrauch
Entdeckung der Jugendpflege als staatsbürgerliche Erziehung
Gegen "Hooligans" - für Kulturarbeit in Volkshäusern
Freidenkerische Künstler
"Kultur" als staatliche Veranstaltung
Keim der Subsidiarität: Vereine und Staat
Freidenker-Hochschule: Kulturwissenschaftliche Akademie
Volksbildner als Beruf: Kulturarbeit zwischen Dienst und Leistung
6. Kapitel: Ausgang und Erbe der dissidentischen Kartellbewegung
Angst vor den Massen - Sehnsucht nach Autorität
Kulturelle Hegemonie für die Idee der Toleranz: Großblock der Linken
Letzte Aktivitäten im Frieden und politisches Handeln im Krieg
Lebenskunde kontra Religionsunterricht: Ausgangslage 1918
Novemberrevolution: Adolph Hoffmann als "Ausmister"
Weimarer Verfassung: Ende der Staatskirche
"Völkische" und "sozialistische" Politisierung: Spaltung der Freidenkerei
Weltanschauung: "deutschgläubig"
Glaube an die "historische Mission"
Endstation Deutsche Bestattungskasse
Freidenkerei heute: Teil der soziokulturellen Normalität und Unbestimmtheit
Subjektiver Ausblick auf eine gemäßigte Belebung der Freidenkerei
Anhang
Abriß der Organisationsgeschichte bis 1914
Personenregister