Mir ist vor einigen Wochen ein besonderer Leckerbissen für Lyriker in die Hände gefallen, nachdem ich bei dem Schweizer Startup "Voice Republic" eine Audio-Aufzeichnung mehrerer Lesungen im Literatur-Café der diesjährigen Leipziger Buchmesse gehört habe. Unter anderen befand sich dort eine Lesung der deutsch-dänischen Autorin Annegret Friedrichsen aus Kopenhagen mit ihrem Lyrikband "Meer im Ohr". Alleine schon der Titel des Buches hat mich berührt und neugierig gemacht. Und da die Audioaufnahme nur einige Titel wiedergab, habe ich mir das Buch bestellt, um alle Texte lesen zu können.
Der Gedichtband kommt in einer schönen Hardcover-Ausführung, der in Meerfarbe (grünblau) gehalten und mit einer Grafik der dänischen Künstlerin Toril Baekmark aus Kopenhagen versehen ist. Diese Künstlerin hat auch zu den vier thematischen Abschnitten des Buches jeweils eine Grafik gestaltet, die mit ihren zarten Strichen, die zugleich poetisch (zur Lyrik passend) wie dramatisch wirken und einen in das Zauberreich Oz zurückzuversetzen scheinen. Eine sehr stimmige und das Gehirn über das Auge auf das zu Lesende vorbereitende Kombination. Alleine schon wegen dieser Zeichnungen hätte ich mir das Buch gekauft!
Aber ich habe es ja ursprünglich wegen der Lesung einiger Texte auf der Buchmesse Leipzig erworben. Schon das Eingangsgedicht "Seeblick mit Spiegelbild" zeigt die teils mystische, teils romantische und auf mehreren Ebenen wirkende Textarbeit der Autorin. Gleich der darauf folgende Text "Meer im Ohr" (auch der Titel des Buches) zeigt den Hang von Annegret Friedrichsen zu märchenhaften Balladen und Kindergeschichten. Die Gedichte im Buch richten sich aber an Erwachsene. Sie stellen auf mehreren, miteinander verwobenen und in der Wörtlichkeit verklammerten Metaphern die Suche des Menschen nach sich selbst, seiner Beziehung zum Du, zum Partner und zum Standpunkt in der Welt dar. Sie behandeln das Wirken des Menschen in der Natur und zeigen deren Zartheit und Verletzlichkeit auf. Sie weisen auf Zeichen hin, in Wolken, an Bäumen, im geschriebenen oder gesprochenen Wort. Und sie geben Schluss endlich Raum für Hoffnung und Vertrauen in eine Welt, die nicht nur Schwarz-Weiß funktioniert, die Beziehungs-fältig ist, wo der Traum die Realität durchmischt und dem Unerklärlichen und Geheimnisvollen der Zauber nicht genommen wird. Das ist ein Vorteil der Lyrik - dass sie mit reduzierten und wie beim Strebenbau der Gotik wohl gesetzten Worten eine Möglichkeit der Erklärung bietet, aber nicht definitiv erklären will.
Die Autorin Annegret Friedrichsen ist in der Nähe von Flensburg geboren, wohnt und arbeitet jetzt aber in Kopenhagen und hat allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaften studiert. Ihre Magisterarbeit schrieb sie über Ingeborg Bachmann und promovierte über Poesie im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Erschienen ist dieser bemerkenswerte und nur zu empfehlende Band 2017 im elbaol verlag hamburg (ISBN: 978-3-939771-55-5).