INHALT:
In "Ich nannte ihn Krawatte" begegnen sich zwei Menschen, deren beider Leben gerade stillzustehen scheint.
Der 20-jährige Taguchi Hiro lebt seit zwei Jahren völlig zurückgezogen in seiner Wohnung als sogenannter Hikikomori, ein Mensch, der sich von der Gesellschaft isoliert hat und nur noch die Wände anstarrt. Eines Tages wagt er sich nach draußen, um die Sonnenstrahlen wieder auf der Haut zu spüren, und kehrt auf eine Parkbank seiner Kindheit zurück.
"Wenn man klein ist, so klein, dass man glaubt, es wird ewig so bleiben, ist die Welt ein freundlicher Ort. Das war mein Gedanke, als ich sie wiedererkannte. Die Bank meiner Kindheit. Diese Bank, auf der ich lernen sollte, dass nichts so bleibt, wie es ist, und dass es sich trotzdem lohnt, auf der Welt zu sein."
Begegnen möchte er zunächst niemandem.
"Es wird ein unsichtbarer Faden geknüpft. Von Mensch zu Mensch. Lauter Faden. Kreuz und quer. Jemandem zu begegnen bedeutet, Teil seines Gewebes zu werden, und dies galt es zu vermeiden."
Als sich schließlich ein 58-jähriger Mann im grauen Anzug, mit rot-grau gestreifter Krawatte und Aktentasche auf eine ihm gegenüberliegende Bank setzt, spürt Hiro dessen tiefe Müdigkeit:
"Ich fühlte, das ist einer, der des Lebens müde ist. Die Krawatte schnürte ihm die Kehle zu."
Ab sofort nennt er ihn für sich "Krawatte". Sie begegnen sich von nun an häufiger bei den Parkbänken. Und ganz langsam entwickelt sich eine vorsichtige Freundschaft: Zunächst tauschen sie nur Blicke aus, dann setzen sie sich zueinander, schließlich beginnen sie zu sprechen.
"Wir sahen beide dabei zu, wie uns alles entglitt, und fühlten beide eine heimliche Erleichterung darüber, nicht in der Lage zu sein, die Dinge geradezubiegen. Vielleicht war das der Grund, warum wir aufeinandergetroffen waren."
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MEINUNG:
Schon mit "Oben Erde, unten Himmel" konnte mich die Autorin überzeugen, aber mit "Ich nannte ihn Krawatte" konnte sie mich nun begeistern! Für mich ist dieses eines der schönsten leiseren Bücher, welches ich für mich entdecken durfte.
Die vorsichtige Annäherung der beiden gesellschaftlichen Außenseitern wird wunderbar dargestellt, wobei der Fokus auf Hiros Innenleben liegt.
Man erfährt auch einiges aus der Vergangenheit der beiden Figuren. Geschichten von Tod, Trauer, Schuld und Schmerz. Obwohl in der Gegenwart der Schauplatz und die Figuren die gleichen bleiben und gar nicht viel geschieht, wirkt die Geschichte dicht erzählt. Und trotz der lediglich etwas über 130 Seiten ist sie thematisch intensiv und geht in die Tiefe.
Flašar schreibt wunderschön, einfühlsam, melancholisch, traurig, gespickt mit einer Prise Hoffnung.
Besonders eindrucksvoll werden gesellschaftliche Themen Japans aufgegriffen, wie Leistungsdruck, Angst vor Gesichtsverlust oder die Tabuisierung von Gefühlen.
Eine Szene, in der sich eine Figur extrem für die Tränen ihres Gegenübers schämt (nach dem Motto: Wie kann er es wagen, einfach zu weinen und den anderen dadurch so zu beschämen? Und das in der Öffentlichkeit?), zeigt z. B., wie sehr in dieser Kultur Weinen als Schwäche gilt. Oder mit wie viel Aufwand die äußere Fassade aufrechterhalten wird. Für mich wirkte das zum Teil beinahe befremdlich, doch es macht die inneren Konflikte deutlich.
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FAZIT: Eine leise, traurig-schöne und einfühlsame Geschichte über die zarte Freundschaft zweier ungleicher Menschen, die sich in ihrer Einsamkeit und in ihrem Schmerz begegnen und aneinander wachsen, bis sie schließlich neuen Lebensmut schöpfen. Ein Buch, das bleibt, in Herz, Kopf & Regal! 5/5 Sterne und ein Highlight!
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(C. N.: u. a. Hikikomori, Sui*id & Sui*idgedanken, Dep*essionen, Mo*bing, Sterben & Tod)