Kurz aber dennoch von bemerkenswerter Tiefe präsentiert sich Dorothee Elmigers neuer Roman Die Holländerinnen. Was sofort ins Auge fällt, ist die ungewöhnliche und zugleich äußerst präzise durchdachte Konstruktion des Textes. Die eigentliche Handlung wird nicht in klassischer Erzählform vermittelt, sondern erscheint den Lesern als Bericht. Eine namenlose Schriftstellerin, deren beruflicher Erfolg angedeutet wird, trägt im Rahmen eines Vortrags die Aufzeichnungen einer Reise in einen südamerikanischen Urwald vor. Auslöser für diese Expedition war die Bitte eines bekannten Theatermachers, ihr bei der Erarbeitung eines Kriminalfalls behilflich zu sein: Zwei Holländerinnen sind in dieser abgeschiedenen Gegend spurlos verschwunden. Es geht dabei jedoch nicht nur um die bloße Nachahmung einer realen Recherche für ein Schauspiel, sondern vielmehr um den Versuch, Kunst in ihrer ganzen Tiefe und Vielschichtigkeit greifbar zu machen.
Die Erzählerin begibt sich jedoch nicht allein in die Wildnis. Begleitet wird sie von einer Gruppe weiterer Reisender, die ebenfalls Teil des Projekts werden. Während das ursprüngliche Ziel die Rekonstruktion des Verschwindens zunächst den Anstoß liefert, tritt es im Verlauf zunehmend in den Hintergrund. Denn die Mitreisenden beginnen, ihre eigenen Lebensgeschichten preiszugeben. Schlag auf Schlag eröffnen sich neue Erzählungen, die sich übereinanderlegen und die Schriftstellerin nicht nur tiefer in den Dschungel führen, sondern zugleich in die unauflösbaren Verwicklungen menschlicher Existenz. Abgründe, Geheimnisse und Widersprüche tun sich auf, die weit über die äußere Reise hinausweisen.
Die literarische Raffinesse Elmigers zeigt sich vor allem in der vielschichtigen Konstruktion des Romans. Da der Text ausschließlich aus dem Bericht der Schriftstellerin besteht, wird alles in indirekter, vermittelter Rede erzählt. Diese Form wirkt zunächst ungewohnt und mitunter sperrig, entfaltet jedoch nach einer kurzen Eingewöhnung ihren eigenen Reiz. Die Distanz, die dadurch entsteht, ist kein Mangel, sondern ein bewusst eingesetztes Stilmittel: Sie schafft eine Sprachfärbung, die dem Werk seine besondere Note verleiht.
Bemerkenswert ist zudem, dass der Roman nahezu ohne klassische Hauptfigur auskommt. Zwar fungiert die Schriftstellerin als berichtende Instanz, doch sie selbst tritt kaum als handelnde Figur auf. Stattdessen übernehmen die Erzählungen der Begleiter die Führung. Eine Geschichte geht in die nächste über, Figuren aus einer vorangegangenen Episode beginnen selbst wieder zu erzählen. Auf diese Weise entsteht ein Bericht im Bericht, der das Werk zu einem literarischen Geflecht aus mehreren Erzählebenen macht. Elmiger jongliert gekonnt mit diesen Überlagerungen, sodass die Vielzahl der Stimmen und Episoden nicht zerfasert, sondern in eine komplexe, aber stringente Gesamtarchitektur mündet.
Gerade durch diese Bauweise entfaltet Die Holländerinnen eine neuartige Komplexität, die Elmiger bis zum Ende souverän durchhält. Die vielen kleinen Anekdoten und Episoden verdichten sich nicht nur zu einem Gesamtbild, sondern beginnen dieses am Ende beinahe zu sprengen: Das Erzählte läuft über, wird mehr als die Summe seiner Teile. Der Kriminalfall um die verschwundenen Holländerinnen, der an einen True-Crime-Stoff erinnert, bleibt dabei eher Kulisse. Er dient als Bühne, auf der unterschiedliche Formen von Existenz, Realität und Fiktion zusammentreffen teils realistisch, teils surreal.
Insgesamt ist Die Holländerinnen ein Roman, der vor allem durch seine Erzählweise fasziniert. Das Ineinandergreifen von Einzelgeschichten und die Verknüpfung zu einem großen Ganzen eröffnen eine neue Perspektive auf Literatur. Nicht jede Episode ist gleich stark, manche Themen wie Kapitalismus oder Kolonialismus werden eher angerissen als vertieft. Dennoch überzeugt die Ausführung durch Präzision und Geschlossenheit. Es ist kein gefälliger Roman, den man leicht liebgewinnt, sondern ein Experiment, das herausfordert und gerade deshalb zur näheren Beschäftigung einlädt.