Es gibt nichts, was es nicht gibt, heißt es so schön und das trifft auch auf den erzählenden Protagonisten zu: seine Familie ist voller Wahnsinn. Depression, Suizidversuche, bipolare Störung, Alkoholismus, nochmal Depression, Realitätsverweigerung, etc. pp. Kein Wunder also, dass er Angst vor dem Wahnsinn hat. Schließlich landet er selbst in der Psychiatrie: als Psychologe. Seine Spurensuche in der eigenen Familie deckt allerhand psychisches Chaos auf, das aber nicht immer krankhaft sein muss. Es kann auch die Verzweiflung an der Gesellschaft sein.
Leon Engler legt mit seinem Debüt "Botanik des Wahnsinns" nicht nur ein grandioses Cover vor (wie großartig treffend kann ein Cover nur sein?!?!), sondern auch ein schwarzhumoriges, tiefgehendes und kurzweiliges Schreibwerk, das einen in rund zweihundert Seiten auf eine Reise durch eine notorisch psychisch vorbelastete Familiengeschichte und schließlich zu ihm selbst mit schippert. Vieles ist tragisch, manches befremdlich, doch irgendwie meistert der Protagonist trotz seiner Vorbelastung den Alltag ganz gut. Er versucht viel Neues, weiß nicht so recht, wo die Reise hinführt und landet schließlich im Naheliegenden: dem Beruf als Psychologen. Seine Vorgesetzte lässt ihn rotieren, er macht die unterschiedlichsten Erfahrungen, um am Ende doch festzustellen: das will ich nicht.
Der Autor strotzt nicht nur selbst mit einer philosophischen, humorigen und treffend klugen Sprache, sondern bedient sich auch an wichtigen Zitaten aus der Intellektuellengeschichte, schneidert dies aber größtenteils dem ikonischen Nachbarn des Protagonisten zu. Sätze wie "Ich gehe ins Bad, schaue in den Spiegel und werde alt." (S. 198), "Wie lächerlich klein wirkt doch die Erfindung der Glühbirne, der Fotografie oder des Quantencomputers verglichen mit der Erfindung eines liebenden Gottes" (S. 152) oder "Ich glaube, er mag die Menschen, doch verzweifelt an der Menschheit" (S. 81) sind genauso treffsicher wie kreativ und: einfach großartig! Ob der Thematik kippt einiges verständlicherweise ins Deprimierende, doch das weiß der Erzähler liebevoll, humorvoll und auch sehr schräg zu kaschieren, ohne dabei den Realitätssinn zu verlieren.
Eines ist gewiss: die Geschichte ist tragisch, aber vielleicht ist es der Umstand, dass der Autor längere Zeit in Wien residierte: es ist auch lustig; und schräg. So stellt der Protagonist über seine ehrgeizige Mutter, die trotz bildungsbefremdlicher Herkunft mitunter durchaus erfolgreich wurde, bis sie mit einer fast beispiellosen Ignoranz den Erfolg auch wieder erfolgreich zunichte macht, die Herkunft nicht in Frage: "Wenn meine Mutter einmal keine Eins geschrieben hatte, vergrub sie aus Furcht vor meiner Großmutter ihre Prüfungen. Auf dem Schulweg hatte sie einen Friedhof der Misserfolge eröffnet. Neben den S-Bahn-Gleisen verrotteten Ovid und Seneca zwei Jahrtausende später ein weiteres mal." (S. 25)
Zugegeben: oft musste ich das Buch weglegen, um nicht selbst zu verzweifeln, doch konnte ich nie lange von ihm ablassen. Der Autor trifft meine Vorliebe für schräges, tiefgründiges Drama gekonnt und lässt dieses kurzumfassende Buch zu einem Highlight des Jahres heranwachsen, das ich einerseits nicht so schnell vergessen werde und andererseits bestimmt des Öfteren noch einmal lesen muss. Es ist einfach wahnsinnig großartig!