Der Fischer Bolivar begeht einen fatalen Fehler: er entscheidet sich, trotz Unwetterwarnung in See zu stechen und überredet den jungen Hector, ihm zu assistieren. Die Konsequenzen sind so grauenhaft wie unvorstellbar: der Sturm reißt sie auf offene See, alles was ihnen bleibt ist das defekte Boot und sie selbst. Es beginnt ein Kampf um Leben und Tod, der beide weit über ihre Grenzen treibt.
Was für ein wahnsinnig gutes Buch ist Autor Paul Lynch hier gelungen! Die philosophischen Betrachtungen auf das Leben und das Sein, der immer intensiver werdende Wahn, die rohe Grausamkeit alles zu tun um zu überleben - oder aber auch nicht, das Existieren im Nichts mit einem fremden Menschen, der Freund und Feind zugleich wird - all das schildert der Autor atemberaubend überzeugend und in metapherngeladener Sprache.
Bolivar war vor dem einschneidenden Erlebnis, das über mehrere Monat andauert, ein Schlitzohr, ein Kleinkrimineller, der Frauen benutzte und nur auf sein eigenes Wohl aus war. Hector wiederum ein junger, fröhlicher Mensch, dem das Leben noch bevorstand. Die Ausnahmesituation scheint ihre Charaktereigenschaften zu brechen, während Bolivar zum Optimisten wird, öffnet Hector dem Wahn Tür und Tor, seine Gedanken werden paranoid, soweit, dass er irgendwann bei Gott landet. Bolivar kommt nicht mehr zu ihm durch und hört doch nicht auf, seine Überzeugung, dass für sie alles gut ausgehen wird, dem jungen Mann zu übertragen - vergebens.
Lynch erzeugt ein so realistisches Bild von dieser auf wahren Begebenheiten beruhender Geschichte, dass ich den Schmerz und die Hoffnung der Protagonisten fühlen konnte, als würde ich als stille Beobachterin mit im Boot sitzen. Die Wandlungen der Figuren ist stet und nachvollziehbar, während der eine in eine unberechtigte Dauerbeichte verfällt, erkennt der andere seine Fehler, reflektiert sie und setzt Hoffnung darin, sie wieder gutmachen zu können. Neben der philosophischen Komponente verbaut der Autor auch eine Spiegelung der Abgründe der Menschheit in die Umgebung der Weltmeere. Hier treiben Maßen an (Plastik)Müll, die in der ausweglosen Situation aber zu dankbaren Werkzeugen werden. Trotzdem ist die Anzahl und auch die bloße Existenz der achtlos entsorgten Verbrauchsgüter mitten im offenen Meer ein Umstand, der mich höchst traurig gestimmt hat. Ein weiterer schwer erträglicher Aspekt ist die Grausamkeit gegenüber Tieren, die Bolivar an den Tag legt, um zu überleben. Hier geht es nicht ums reine Töten, sondern ums Quälen, um das eigene Überleben zu sichern.
Nichts an der Geschichte wirkt unrealistisch, sie zieht einen Sog aus Ausweglosigkeit und Hoffnung, Aufgeben und Kämpfen, Verhandeln von Existenz und Tod. Und als Draufgabe die umwerfende Sprache des Autors, der sich mit Metaphern austobt, die nicht immer nachvollziehbar, dafür aber eine literarische Wohltat sind.
Mein Fazit: Jenseits der See ist ein großartiger Roman über den Existenzkampf auf hoher See in einer ausweglosen Situation, der den beiden Protagonisten alles abverlangt und sie in einen Zustand versetzt, der sie zwischen Wahn und Wirklichkeit, Hoffnung und Aufgabe, Grausamkeit und Zuneigung gefangen hält, um sie schließlich in ihrer eigenen Erkenntnis auszuspucken. Hier zeigt sich Sprachgewalt in metaphernhafter Höchstleistung, die in keiner Sekunde auf Kosten der Geschichte geht. Jenseits der See ist für mich eines der Jahreshighlights 2025 und ich kann allen, die beim Lesen emotional gerne an ihre Grenzen getrieben werden, raten: lest dieses Buch!