Gestaltung:
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Das Titelbild wirkt ruhig, aber auch schön mit der Landschaft. Ich hätte jedoch ein Porträtfoto der Großmutter besser gefunden. So wäre klarer, dass es sich um eine Biografie handelt.
Inhalt:
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"Sie wird nicht die einzige gewesen sein. Wir unterschätzen so viele gelebte Leben. Nahezu jeder Mensch wird dem Treiben der Geschichte einmal die Stirn geboten haben. In jeder Biografie spiegelt sich Weltgeschehen, und jeder unserer Vorfahren hat dieses Weltgeschehen mitgeprägt, ob durch Anpassung oder Auflehnung, bremsend oder beschleunigend."
(S. 10)
Der Autor hat aufgrund weniger Fotos und vieler Recherchen in diversen Archiven und Bibliotheken die außergewöhnliche Geschichte seiner Urgroßmutter Anna Kalthoff rekonstruiert. Eine Frau, die es schaffte, sich teilweise aus dem damals üblichen Frauenkorsett zu befreien und ihren eigenen Weg ging.
Mein Eindruck:
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"Jeder Mensch stirbt zweimal.
Sein erster Tod ist biologisch und der, den wir meinen, wenn wir vom Sterben sprechen.
An einem bestimmten Tag, zu einer festen Stunde, fehlt dem Herz die Kraft für einen
nächsten Schlag, versiegen die Hirnströme, stellt ein Arzt einen Totenschein aus und
bestätigt damit amtlich ein Ende, das insofern keins ist, weil in genau diesem Moment
das zweite Sterben beginnt: Der Mensch wird vergessen.
Der zweite Tod, nennen wir ihn den sozialen, vollzieht sich anfangs fast unmerklich."(S. 7f)
Diese Biografie habe ich als sehr außergewöhnlich empfunden. Denn es ist keine Romanbiografie und auch kein stupides Auflisten von Ereignissen. Es ist eine Spurensuche, bei der man dem Autor über die Schulter schauen kann. In ruhigem Erzählstil schildert er, auf welcher Basis er rekonstruiert und lässt den Leser teilhaben an seinen Gedankengängen. Zwischendurch ermahnt er sich selbst dabei, nicht zu viel zu beurteilen:
"An dieser Stelle ein Ordnungsruf an mich selbst: Was verleitet mich, Annas Leben vornehmlich als Geschichte des Leidens zu erzählen? Warum gestehe ich ihr nur wenig Freude zu? Was würde sie sagen, wenn sie lesen könnte, dass ich ihre Biografie meist mit Molltönen unterlege? Anna als Waise, Anna als Witwe, Anna als angehende alleinerziehende Mutter." (S. 85f)
Obwohl der Erzählstil unaufgeregt war, hat mich diese Lebensgeschichte in ihren Bann gezogen. Zum einen war Annas Leben sehr beeindruckend. Für eine Frau, die im 19. Jahrhundert geboren wurde, hat sie ungewöhnliche und mutige Wege beschritten. Zum anderen gefiel mir aber auch der Blick hinter die Kulissen, die uns Herr Sußebach bei der Entstehung gewährt hat.
Einen Punkt Abzug gibt es, da der Autor das nicht vorhandene Wissen über Annas Leben häufig mit Sequenzen füllt, die die Umgebung von Anna oder das damalige Leben im Allgemeinen betreffen. Das ist zwar auch interessant, aber lenkt oft von der Tatsache ab, dass alleine die Biografie nicht buchfüllend gewesen wäre und macht die Erzählung stellenweise langatmig.
Dieses Buch regt dazu an, sich über seine eigenen Vorfahren Gedanken zu machen und ermahnt einen, die Figuren aus ihrer Zeit heraus zu betrachten und nicht mit heutigen Maßstäben zu messen, denn: "Die Vorstellung, die wir von vergangenen Generationen haben, ist immer abhängig von den Speichermedien, die ihnen zur Verfügung standen" (S. 14).
Fazit:
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Beeindruckendes Leben einer ungewöhnlichen Frau gespickt mit Einblicken in die Rekonstruktionsarbeit von Biografien.