Melvilles berühmtester Roman, durch den sein Name wohl heller vom Sternenhimmel der Weltliteratur strahlt als der jedes anderen amerikanischen Schriftstellers des 19.Jahrhunderts, erschien in deutscher Sprache mit einiger Verspätung erstmals 1927 im Knaur-Verlag. Doch diese Übersetzung war nicht vollständig. Es handelte sich um eine auf die Ahabsgeschichte reduzierte, um die Hälfte des Umfangs zusammengekürzte Bearbeitung und damit um die Vorreiterin jener zahllosen Kinder-und Jugendbuchversionen, die seit den fünfziger Jahren auf den Markt kamen.
Die Übersetzung von Mathias Jendis, die der Hanser Verlag genau 150 Jahre nach der Publikation des Originals nun vorlegt, ist die erste, die auf einem vollständigen, gesicherten Ausgangstext beruht.
Das also, wodurch sich Melville mit Moby-Dick seine überragende Stellung unter den amerikanischen Schriftstellern gesichert hat, zeichnet sich erst in dieser Neuübersetzung von Jendis ab: Nämlich daß Melville mit Moby-Dick ein großes sprachliches Bauwerk in der Weltliteratur schuf.
Die kongeniale Übersetzung verbindet die rasante Abenteuerhandlung (Ahabs Jagd nach dem weißen Wal) und packende Schilderungen vom Alltag des Walfangs (damals der bedeutendste Industriezweig der jungen Nation) mit mal krass realistischen, oft aber auch poetischen Beschreibungen des Lebens auf hoher See.
Mehr noch: Der Erzählfaden wird ständig abgeschnitten oder neu verwoben mit Textgattungen und Stilformen, die in einem klassischen Roman eigentlich nichts verloren haben: Theatralische Szenen im hohen Ton der Tragödie oder im launigen Parlando des Lustspiels wechseln mit Predigten, naturkundlichen Essays, satirischen Parodien, zeitkritischen Pamphleten , Anlehnungen an antiken Mythen , Geschichten aus der Bibel bis hin zu philosophischen Reflexionen über Kunst, Religionen und Ökonomie.
Das verbindende Element aller dieser Teile ist Ismael, der Ich-Erzähler: In der Handlung spielt er nur eine untergeordnete Rolle. Aber als Erzähler, als fiktiver Autor ist Ismael der eigentliche Held des Buches
Das Thema des monumentalen Werkes ist der Trieb des Menschen zur Deutung der Welt und zur Selbstvergewisserung im Reden und Schreiben. Melvilles Buch ist vernarrt in die Sprache. Es ist, jenseits der schauerromantischen Abenteuerhandlung, eine zeitlos moderne Geschichte über das Lesen, das Erzählen, die Spekulation und die Phantasie.