Der Liebesbrief thematisiert und variiert nichts anderes als den Gedanken inniger Zuwendung: «Ich denke an Dich». Da die Tradition, Liebesbriefe zu schreiben, auch im Zeitalter des Internet nicht abgebrochen ist, wohl aber deren Kultur, lohnt der Rekurs auf verlorengegangene Qualitäten des Briefschreibens selber. Das sind die Wiederentdeckung der Stille resp. Innerlichkeit als Voraussetzung des Schreibvorgangs, die Gestaltungsfähigkeit vielschichtiger emotionaler Erfahrungen und Bedürfnisse, damit der Brief zum «Spiegel der Seele» werden kann, und die Kunst der Verzögerung, welche die zeitlich-räumliche Distanz zwischen Absender und Empfänger, den Trennungsschmerz, seelisch-erotisch intensiviert.
Der «Liebesbrief in den Künsten» bringt die atmosphärische Dimension des intimsten aller Textkörper ästhetisch zum Schwingen; er ist Plädoyer für eine Schreibkultur, deren anthropologische, psychologische und kathartische Funktion und Bedeutung es neu zu entdecken gilt. Der vorliegende Symposionsband thematisiert Beispiele aus Literatur, Musik und Bildender Kunst. Zur Diskussion stehen Werke von Ovid, Goethe, Schiller, Puschkin - Beethoven, Mozart, Schubert, Brahms, Massenet, Tschaikowsky, Verdi, Hindemith - Minnekästchen, Vermeer, Rubens, Spitzweg, Klinger, Kokoschka, Grieshaber u. a. Der Ausblick auf japanische und indische Briefkunst wagt den transkulturellen Vergleich, der erstaunlicherweise mehr Vertrautheit als Fremdheit offenlegt.
Erstmalig wiedergegeben werden die eigens für dieses Symposion geschaffenen Bilderzyklen von Jürgen Czaschka zu Ovids Briefen antiker Heroinen und Anke Dziewulski zu Mozarts Hochzeit des Figaro, desgleichen das Preview zur Uraufführung der halbszenischen Komposition Hero und Leander von Dimitri Terzakis.
Inhaltsverzeichnis
Aus dem Inhalt: Jü rgen Schulz-Grobert: « . . . mit rosen bedacht» - Mittelalterliche Liebesbriefverse und die Mö glichkeiten ihrer « romantischen» Aktualisierung - Bernhard Kytzler: Die Liebesbriefe Ovids - Monodramen, Liebespathographien oder erste Opernszenen der Antike? - Jü rgen Czaschka: Ovids Heroides bildnerisch interpretiert. Bernhard Kytzler und Ute Jung-Kaiser im Gesprä ch - Dimitri Terzakis: Hero und Leander. Rapsodia fü r einen Sprecher, Viola, Klavier und Tonband nach Texten von Ovid und Friedrich Schiller (2003) - ein Preview zur Urauffü hrung. Interpreten und Wissenschaftler im Gesprä ch mit dem Komponisten - Anke Dziewulski: Mozarts Hochzeit des Figaro in Linol geschnitten. Die Kü nstlerin im Gesprä ch mit Gernot Gruber und Corinna Mü ller-Goldkuhle - Ute Jung-Kaiser: « Erzeugt von heiß er Phantasie» . . . Mozarts Dramatisierungskunst auf allerkleinstem Raum - Hans Joachim Kreutzer: Schubert und der Orient. Marianne von Willemers Briefgedichte in Schuberts Vertonung - Michael Kohlhä ufl/Michael Kube: Goethes Sonett Die Liebende schreibt - seine Poetik und musikalische Interpretation - Albrecht Goebel: Verdis « Scena» im Spannungsfeld von Konvention und Ausdruck. Briefszenen in La Traviata und Luisa Miller - Kadja Grö nke: Eine echte Liebe - aber kein echter Liebesbrief. Zur Divergenz von Szene und Brief in Tat'janas Briefszene aus Cajkovskijs Evgenij Onegin - Elke-Maria Clauss: Das Libretto der Oper Werther von Jules Massenet im biographischen und ä sthetischen Spannungsfeld ihrer Vorlagen - Luitgard Schader: « So wü nsch ich ihr ein gute Nacht» . Paul Hindemiths Liebesgrü ß e an seine Frau - Hubert Buchberger/Saga Quartett: Janá ceks Intime Briefe - ein Streichquartett als Forum obsessiv-pathologischer Liebe? Interpretationsfragen - Ute Jung-Kaiser: Addendum: Ein gefalteter Liebesbrief aus Japan - Max Klingers verunglü ckter (Liebes-)Brief an eine Sä ngerin - « Liebesbriefe in Bildersprache» - Kokoschkas Fä cher fü r Alma - « Mein Engel, mein Alles, mein Ich! » Was die « unsterbliche Geliebte» und ein Kü chenmamsell miteinander verbindet.