Es gibt alte Bücher, bei denen sich die Mühe lohnt, sich in ihre Zeit und Kontext hineinzuarbeiten, um sie zu verstehen. Und es gibt alte Bücher, die so gut sind, dass das gar nicht notwendig ist. David Copperfield zählt zu letzterer Kategorie: Von der ersten Seite an steht die/der LeserIn mitten im Geschehen, und die eingängig gezeichneten Figuren sowie die Bandbreite der Schilderungen zwischen Dramatik und feinem Humor lassen nachvollziehen, warum ein John Irving mehrfach Charles Dickens und dessen David Copperfield seine Reverenz erwiesen hat, etwa in Gottes Werk und Teufels Beitrag.
Die ursprünglich in Fortsetzungen erschienene Erzählung lässt sich vergnüglich auch so schmökern. Im Grunde aber haben wir einen klassischen Bildungsroman feinster Machart mit zunehmend kunstvoll verknüpften Entwicklungssträngen der einzelnen Figuren vor uns. Darüber hinaus finden wir aufschlussreiche Zeit- und Sozialkritik: nicht nur an der frühkapitalistischen Kinderarbeit, sondern auch die bissige Bloßstellung eines überkommenen, zur Pfründewirtschaft degenerierten Rechtspflegesystems, die an Kafka gemahnt; die Warnung, dass die Phrasen der Regierenden eines Tages wie aufständische Sklaven auf sie zurückkommen könnten; die Verantwortungslosigkeit des allseits bewunderten Erfolgsdandys sowie durchgängig die Kritik eines an Revenuen orientierten Lebens der oberen Schichten, der antithetisch die (v.a. geistige) Arbeit zwecks Lebensunterhalt und Selbstbestätigung gegenübergestellt wird; wir erfahren, warum das korrespondierende Frauenbild (liebreizend, dekorativ und naiv) auch dem tätigen Mann nicht genügen kann und dass intrigante Emporkömmlinge nicht einfach als individuelle Fehlentwicklungen, sondern als notwendiges Resultat einer Gesellschaft mit starkem sozialen Gefälle zu verstehen sind.
Das eBook resultiert offenbar aus dem Fundus des Gutenberg-Projekts, leider mit dessen Mängeln. So ist z.B. regelmäßig ich suhlte als ich fühlte zu lesen, Nora als Dora, bei den Modalverben fehlen die Umlaute zur Unterscheidung zwischen Konjunktiv und Präteritum u.v.a.m. Zwar minimiert sich die Fehlerquote nach den ersten Kapiteln, aber man bleibt zu Recht bis zum Ende misstrauisch gegenüber dem Gelesenen. Ein professionelles, auf Bücher kapriziertes Unternehmen wie libri.de täte gut daran, hier und anderswo vorab noch einmal einen kritischen Korrektoren-Blick in seine Produkte zu werfen. Das sind wir dem Respekt vor dem Autor und auch dem kulturellen Medium Buch schuldig.