»Im Jahr des Reformationsjubiläums, in dem dieses Heft erscheint, muss man sozusagen an die frühen Bestseller der Reformation erinnern: Von Martin Luthers Schrift >An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung< wurden im August 1520 viertausend Exemplare gedruckt und innerhalb einer Woche verkauft, eine für damalige Verhältnisse außerordentlich hohe Zahl. In kürzester Zeit erschienen vierzehn weitere Auflagen der Schrift. Von der im gleichen Jahr entstandenen Schrift >Von der Freiheit eines Christenmenschen< hat es in kurzer Zeit achtzehn Auflagen gegeben. Und der Bibelübersetzung Luthers war ein bis dahin nie gekannter Erfolg beschieden. In den Jahren 1522 bis 1534 erschien das Neue Testament in 85 Ausgaben (1) und war damit nicht nur der Bestseller seiner Zeit, sondern auch der Steadyseller (d. h. guter Umsatz bei langer Umsatzzeit).
Hochachtung vor diesem (auch merkantilen) Bucherfolg ist allerdings nicht der Grund für das vorliegende Heft. Der Grund lässt sich an einem Zitat von Ernst Jandl festmachen:
»Dass ich überhaupt immer wieder auf dieses Wort, auf diesen Begriff Gott, wenn man will, zurückgeworfen werde, könnte als ein Kleben an diesem Begriff bezeichnet werden, wobei zwischen >ich klebe an Gott< und >ich glaube an Gott< ein ganz enormer Unterschied ist, aber ich glaube, kein totaler. Denn auch ein Glauben an Gott bedeutet ein Kleben an Gott, ein Nicht-Loskommen. <(2)
Zweierlei kommt hier zum Ausdruck: Ein Dichter (und zwar keiner, der der explizit religiösen Literatur zuzurechnen ist) sagt hier von sich, dass er an Gott >klebe<, und er betont im gleichen Atemzug, dass das nicht mit >glauben an Gott< gleichzusetzen sei. Wie unter einer Lupe kommt hier eine Entwicklung zum Vorschein, die das Verhältnis von Literatur und Theologie seit geraumer Zeit prägt. Die große Distanz, die dieses Verhältnis (oder
eher Nicht-Verhältnis) lange bestimmte, ist einem beiderseitigen Interesse gewichen. In der (vor allem systematischen und praktischen) Theologie wird die Literatur zunehmend zur Kenntnis genommen, umgekehrt beschäftigt sich die Literatur in zunehmendem Maß mit religiösen Stoffen, wobei sie durchaus den Unterschied zwischen >kleben< und >glauben< wahrt. Und die Bestseller der letzten Jahrzehnte wie die >Harry Potter<-Bände, um nur diese exemplarisch zu nennen, haben mit ihren vielfältigen religiösen Anspielungen das Interesse der Religionspädagogik, aber auch der Theologie insgesamt und der Kulturwissenschaft geweckt. So legt sich das Thema >Religion in Bestsellern< gerade für die Zeitschrift >Glaube und Lernen< nahe.
Im >Kennwort< geht Ernstpeter Maurer von der idealistischen Religionsphilosophie (Schleiermacher, Hegel) aus und gewinnt daraus Maßstäbe für die religiöse und die literarische Rede. Inkommensurable Erfahrungen kommen in beiden Bereichen zur Sprache, wobei festgehalten wird: Ohne Inkommensurabilität kann nicht von Gott geredet werden, aber nicht jede Inkommensurabilität ist schon Reden von Gott. Die grundlegende Angewiesenheit des Menschen auf Narrativität und deren Fähigkeit eine eigene Wahrheit mit sich zu führen, kann Literatur und Religion verbinden.
Narrativität ist auch in Markus Mühlings Beitrag ein zentrales Stichwort. In Geschichten erster Ordnung (der primären Narrativität) ereignet sich die Welt. Dieses ereignishafte Geschehen ist aber nicht als solches wahrnehmbar, sondern immer nur vermittelt in erzählten Geschichten (die die sekundäre Narrativität bilden). Zwischen beiden besteht ein Wechselverhältnis: Die >Erzählung der Welt< ruft die menschliche Erzählpraxis hervor, diese Erzählpraxis gestaltet umgekehrt aber auch die Welt mit. Die sekundäre Narrativität bringt viele verschiedene Formen hervor, Kunst, Film, Literatur. Auch die biblische Erzählpraxis ist hier anzusiedeln, und aus diesen und anderen Geschichten speist sich der Glaube, der deshalb nicht als Lehre zu verstehen ist, sondern als Weise der Wahrnehmung, als Perspektive auf die >Erzählungen der