Der Held von Susanna Clarkes neuem Roman heißt nicht Piranesi. Das ist nur der Name, den ihm der einzige andere Bewohner gegeben hat, mit dem er zu bestimmten Zeiten in dem riesigen Haus mit den hunderten von Hallen, Fluren und Treppen verabredet ist.
Piranesi - belassen wir es vorerst bei diesem Namen - verehrt diesen Mann als Wohltäter und Freund, fast wie einen Gott. Dieser Andere hat auch beinahe gottgleiche Macht, versorgt er doch Piranesi scheinbar völlig uneigennützig und großzügig, aber der Leser merkt bald: nur, mit dem Allernötigsten. Piranesi lebt von der Hand in den Mund, seine Kleidung ist zerschlissen und die Schuhe durchgelaufen. Er ernährt sich ärmlich, ausschließlich von dem, das er in seinem Fischernetz an Land zieht und er ist in dem Gebäude, das seine Welt ist, bis auf die kurzen Begegnungen mit diesem anderen Mann ganz allein.
Dennoch scheint Piranesi zufrieden, sogar glücklich. Er hat das Haus gründlich erforscht und schreibt ihm alle möglichen Wohltaten zu. Das Haus scheint sich fast genauso, wenn nicht mehr als sein einziger Gesprächspartner, um sein Wohlergehen zu kümmern. Wie ein lebendes Wesen.
Leser merken bald, dass mit Piranesi und dem riesigen Haus, welches seine ganze Welt darstellt, etwas ganz und gar nicht stimmt. Sturmfluten durchtosen es zu Zeiten, gleichzeitig sind seine Hallen und Flure von traumgleicher Schönheit und genauso verwirrend. Es ist ein Labyrinth, das Statuen von Göttern und Menschen bevölkern. Und durch diesen Irrgarten und durch Piranesis Irrtümer müssen wir der Autorin folgen.
Susanne Clarke erlegt dem Mann, der seinen Namen und den Grund, der ihn in das vom Meer durchspülte Haus gebracht hat, einen wahren Leidensweg auf. Die Ereignisse hinterlassen in ihrem Protagonisten Spuren, die auch nach dem Ende der Lektüre und der Aufdeckung des gleichzeitig fürchterlichen und beinahe banalen Geheimnisses nicht mehr aus Piranesis Persönlichkeit zu löschen sein werden.
Man kann Piranesi von Susanna Clarke wie einen Fieberalbtraum lesen, oder den Roman als psychologische Studie betrachten. Hier liegt ein abscheuliches Verbrechen vor - und dennoch weckt die Autorin in Lesern (fast) den Wunsch, Piranesi in seine Welt zu folgen. Sie besitzt Schönheit.
Wie wir sie nur in Romanen lesen werden.