Inhalt:
Lena ist erst 19 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg endet und sie mit ihrer Schwester aus ihrem Heimatort fliehen muss. Als Pastorentöchter finden die Mädchen bei der Pastorenfrau von Niebüll Unterschlupf. Lena muss sich nun in dieser neuen Situation zurechtfinden. Statt einer angesehenen Pastorentochter ist sie nun ein misstrauisch betrachteter Flüchtling. Einerseits möchte sie ihren guten Ruf erhalten und beweisen, dass die Vorurteile nicht stimmen. Andererseits möchte sie selbstständig sein und etwas erleben. Der letzte Wunsch scheint in Erfüllung zu gehen, als sie von der britischen Armee das Angebot bekommt, als Dolmetscherin zu arbeiten.
Charaktere:
Lena ist ein interessanter und vielseitiger Charakter. Sie ist stark und selbstständig - das muss sie aufgrund der Flucht, die hinter ihr liegt auch sein. Das sind aber nicht ihre einzigen Charaktereigenschaften, wie es in aktuellen Büchern und Filmen leider hin und wieder der Fall ist. Es ist an vielen Stellen deutlich, dass sie Pastorentochter ist, was soll Auswirkungen auf ihren Glauben als auch auf ihre Herkunft und ehemalige Stellung hat. Ich denke, sie passt gut in die Zeit. Auch ihre Auseinandersetzung mit den Konzentrationslagern und Nazi-Deutschland erscheint mir glaubwürdig, was wohl nicht zuletzt daran liegt, dass die Autorin sich von ihrer Großmutter hat inspirieren lassen.
Design und Schreibstil:
Das Cover ist relativ schlicht, aber schön. Was mir richtig gut an dem Buch gefällt, sind die Innenklappen. (Ich hoffe, das ist das richtige Wort dafür.) Darauf stehen sehr passend ausgewählte Zitate aus dem Buch. Der Schreibstil lässt sich sehr gut lesen. Es gibt einige wunderschöne, sehr intensive Szenen, bei denen man sich fühlt, als wäre man mitten im Buch.
Perspektive:
Die Perspektive wechselt sich in jeden Kapitel ab. Die meiste Zeit über Folgen auf ein Kapitel aus Lenas Sicht zwei Kapitel aus anderen Perspektiven. Hier liegt mein einziger Kritik-Punkt. Ich hätte die anderen Perspektiven zu 90 Prozent nicht gebraucht und habe gleichzeitig Szenen aus Lenas Sicht vermisst. Ich habe dafür aber keine Punkte abgezogen, weil ich denke, dass es ein sehr subjektiver Kritikpunkt ist. Ich lese in erster Linie weil ich Charaktere und deren Beziehungen untereinander liebe. Lieber verzichte ich auf Spannung und bin dafür ganz nah an einem Charakter.
Von einer Charakterentwicklung bzw. von der Entwicklung von Charakterbeziehungen bekommt man leider deutlich weniger mit, wenn es sehr viele Perspektiven und größere Sprünge gibt. Es gibt in dem Buch glaubwürdige und interessante Entwicklungen, aber oftmals wird der Weg der Entwicklung eher zusammenfassend beschrieben. Um ein Beispiel zu nennen: Ich wäre sehr gerne näher bei Lenas Arbeit als Dolmetscherin dabei gewesen und hätte gerne mitbekommen, wie genau sich die Beziehungen zu ihrem Chef, zu anderen Soldaten etc. aus ihrer Sicht entwickeln.
Der Vorteil an den verschiedenen Perspektiven ist natürlich, dass man die Nachkriegszeit aus der Sicht verschiedener Personen innerhalb eines Buches erkunden kann. Außerdem wird dadurch Spannung erzeugt. Und diese beiden Vorteile werden in dem Buch genutzt und auch schön umgesetzt.
Die Geschichte:
Die Geschichte finde ich allein schon wegen des Settings interessant. Vielleicht sind die Bücher in meiner Bubble nur nicht aufgetaucht, aber soweit ich weiß, ist das ein Zeitraum, über den es nicht allzu viele Romane gibt. Die meisten Romane und Biografien handeln von der Zeit des Dritten Reichs an sich. Die unmittelbare Nachkriegszeit ist, meiner Meinung nach, sehr interessant, aber auch sehr schwierig. Es musste vieles aufgearbeitet werden und es gab naturgemäß viele Menschen, die mit sich und der Welt gehadert haben und ihr Weltbild erneuern mussten. Es gab Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen furchtbare Dinge getan oder dabei zugeguckt haben. Und es gab auch zahlreiche Menschen, die selbst sehr gelitten haben. Es ist schwierig das alles nachzuvollziehen und überzeugend rüberzubringen. Das hat die Autorin gut umgesetzt.
Thema:
Das Buch setzt sich vor allem mit Fragen der Schuld und individueller Verantwortung auseinander. Die gestellten Fragen sind zeitlos. Da die meisten von uns wohl erst nach 1945 geboren worden sind, nicht mehr wegen den im Dritten Reich begangenen Verbrechen, aber es gibt genug andere Dinge, bezüglich derer wir uns auch heute diese Fragen stellen können. Lena hat mit ihrem Beitrag zu Hitlers Macht, dem Krieg und den Konzentrationslagern zu kämpfen. Dabei werden jedoch keine Gräueltaten im Einzelnen detailliert beschrieben, sodass das Buch, denke ich, keine Triggerwarnung braucht.
Insgesamt:
Ich kann das Buch wegen des spannenden Hauptcharakters und des interessanten Settings jedem empfehlen, der oder die sich vom Klappentext angesprochen fühlt.