INHALT:
England, 1964: Helen arbeitet als Kunsttherapeutin in Westbury Park, einer modernen psychiatrischen Klinik.
Seit längerer Zeit schon hat sie eine Affäre mit Dr. Gil Rudden, einem der leitenden Psychiater, der die Arbeitsweise in den Kliniken gründlich reflektiert und für die Patient*innen verbessern möchte.
Für ihn werden zu viele "Verhaltungsweisen, die die Gesellschaft nicht gutheißt", offiziell als psychische Erkrankung eingestuft. Er dagegen ist vorsichtig beim Verteilen von Etiketten oder Medikamenten und versucht, die Patient*innen persönlich mit in die Behandlung einzubeziehen.
Auch Helen ist sehr am Wohl ihrer Schützlinge interessiert. Offiziell soll sie diese lediglich auf künstlerischer Ebene "zum freien Ausdruck" ermuntern und soll sich aus der Arbeit des medizinischen Fachpersonals heraushalten. Doch schon allein durch ihre Nähe zu Gil überschneiden sich ihre Tätigkeitsgebiete hin und wieder
Durch eine Ruhestörung wird man eines Tages auf einen verwahrlosten 37-jähriger Mann aufmerksam, der halbnackt im baufälligen Haus seiner Tante aufgefunden wird.
William Tapping muss seit mindestens zehn Jahren sein Zuhause nicht verlassen haben. Doch er spricht nicht, weshalb man in Westbury Park zunächst kaum etwas über ihn in Erfahrung bringen kann.
Seine 74-jährige Tante wird ebenfalls in der Klinik aufgenommen. Sie wirkt desorientiert, leidet vermutlich an einer Demenz.
Als Helen erkennt, dass William sich gerne künstlerisch betätigt, sieht sie die große Chance, ihn durch die Kunsttherapie aus seinem Schneckenhaus zu locken und einen Zugang zu ihm zu finden.
Noch ahnt sie nicht, was wirklich hinter Williams Schweigen und Isolation steckt ...
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MEINUNG:
Als ich dieses Buch in die Hand genommen habe, hatte ich hohe Erwartungen. Die begeisterten Stimmen von Bookstagram & Co. haben mich neugierig gemacht. Und die Tatsache, dass Kunsttherapie eine Rolle in der Geschichte spielt, hat mein Interesse ebenfalls geweckt.
Zugegeben, am Anfang habe ich mich nicht unbedingt leichtgetan.
Die ersten Beschreibungen über die Methoden der Kunsttherapie an der Klinik habe ich als widersprüchlich erlebt. Ich hatte das Gefühl, dass nicht alles exakt zusammenpasst, wodurch die Glaubwürdigkeit an dieser Stelle für mich etwas verloren ging.
Glücklicherweise änderte sich dies im Verlauf der Geschichte schon bald und ich habe Helens Arbeit in der Kunsttherapie sehr bewundert, auch wenn ich sie mir noch detaillierter dargestellt gewünscht hätte.
Obwohl mir Helen teilweise etwas zu ferngeblieben ist, bin ich ihr doch gerne durch die Handlung gefolgt. Ihre behutsame Art, die sie Patient*innen gegenüber an den Tag legt und ihr großes Engagement, zeigen, wie sehr ihr die Menschen, die zu ihr kommen, am Herzen liegen.
Wie Dr. Gil Rudden, legt auch Helen großen Wert darauf, dass die Patient*innen eine möglichst hilfreiche Behandlung erhalten, statt lediglich mit Medikamenten "ruhiggestellt" zu werden.
Den Einblick in die damalige Psychiatrie-Arbeit und deren Entwicklung fand ich ebenfalls interessant.
Der inhaltliche Fokus lag mir sonst zum Teil etwas zu sehr auf der Affäre zwischen Helen und Dr. Gil Rudden. Dies ist selbstverständlich, wie so vieles, Geschmackssache.
Ab etwa der Hälfte des Buches hat mich die Handlung sehr gepackt.
Vor allem mit William Tapping hatte ich großes Mitgefühl und habe mit Spannung die Erlebnisse seiner Vergangenheit und seine Entwicklung in der Gegenwart, verfolgt. Man möchte wissen, was dazu geführt hat, dass er weder spricht noch das Haus verlassen hat.
Dabei wird seine Geschichte von hinten nach vorne erzählt, was raffiniert und gut durchdacht wirkt.
Titel und Cover des Buches passen zur Geschichte von William, den man ebenfalls als "scheues Wesen" beschreiben könnte. Die Blaumeise erinnert mich außerdem an die behutsame Art von Helen, im Umgang mit den Patient*innen.
Im Nachwort schreibt die Autorin, dass das Buch auf einer wahren Begebenheit beruht. In einem Zeitungsartikel ist sie auf das Schicksal von einem Harry Tucker aufmerksam geworden, welcher über Jahrzehnte weder von Behörden noch von Nachbarn bemerkt worden ist. Besagter Bericht diente ihr als Inspirationsquelle für "Scheue Wesen".
Oftmals schreibt das Leben die interessantesten Geschichten ...
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FAZIT: Auch wenn das Buch für mich kein Highlight war und ich manche Kritikpunkte hatte, habe ich vor allem die Geschichte von William, aber auch die Arbeit in der psychiatrischen Klinik, mit großem Interesse verfolgt. Von mir gibt es daher 3,5-4/5 Sterne!
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C. N.: v. a. Ableismus, Verwahrlosung, Isolation, ein traumatisches Erlebnis (welches ich nicht näher benennen kann, ohne zu spoilern), Tierquälerei