Die japanische Soziologin und Kolumnistin Suzumi Suzuki hat mit Die Gabe eine Geschichte rund um das tokioter Rotlichtmilieu und eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung verfasst. Die Mutter ist sterbenskrank und hat die selbstauferlegte Mission, ihr Gedicht In Freiheit zu Ende zu schreiben. Wird sie es schaffen, oder ist der Tod schneller?!
Die namenlose Protagonistin begleitet den Sterbeprozess ihrer Mutter. Dabei fühlt sich von selbiger schon ihr ganzes Leben lang vereinnahmt: Meine Mutter hat nie geheiratet. Auch nachdem ich die Hülle ihres Körpers verlassen hatte, bis ich selbst etwas zu essen greifen konnte wenigstens, hatte ich mit Haut und Haaren ihr gehört.
Sie hadert mit ihrer Selbstbestimmung, fühlt sich von ihrer Vergangenheit verfolgt.
Um der Situation zu entfliehen und sich zu betäuben greift sie vermehrt zu Alkohol und anderen Suchtmitteln: Die eine Hälfte des Tages verbringe ich in dunkler, die andere in schwindender Erinnerung. Hin und wieder treten unwahre Erinnerungen, Wahnvorstellungen oder Halluzinationen in den Vordergrund, aber das, von dem ich wünschte, es wäre Wahn, ist leider immer wahr, damit habe ich mich schon abgefunden.
Eine gute Freundin hat sie in der Vergangenheit schon öfters kontaktiert und über ihren Suizid philosophiert, bzw. ihn angedroht - auch heute ist das wieder der Fall, doch warum sollte sie es gerade heute in die Tat umsetzen, wenn es vorher doch eher nur ein Heisch nach Aufmerksamkeit war?!
Sie hatte so oft von Selbstmord gesprochen, dass wir das im Freundeskreis nur noch als Synonym für >>ich habe schlechte Laune <<, >>mir ist was trauriges passiert<< oder >>ich will dich sehen<< verbucht hatten.
Und genau an diesem Tag meint sie es ernst und bringt sich um. Was löst das nun in unserer Protagonistin aus?! Selbstvorwürfe und -zweifel, Wut, Ohnmacht gegenüber der Situation - es lässt sich nicht ungeschehen machen, die Zeit verläuft nur nach vorne.
Ihre Mutter ist derweil aufgrund ihres gesundheitlichen Zustandes ins Krankenhaus übergesiedelt. Sie denkt nun über ihr Verhältnis mit ihr zu Zeiten ihrer Kindheit nach. Sie war selbst eine S*xarbeiterin, aber versuchte dies stets zu verheimlichen vor ihrer Tochter. Als Alleinerziehende struggelte sie mit den Finanzen, schaffte es aber immer über die Runden zu kommen mit erspartem Trinkgeld, dass sie durch Gesang hinzuverdiente, gab Kurse und veröffentlichte einige Gedichtbände.
Ihre Mutter war keine, die oft schimpfte, doch eines Tages kam sie nach Hause, wurde von ihrer Mutter am Arm festgehalten und sie drückte ihre Zigarette an ihr aus, ihr T-Shirt fing dabei Feuer, was die Mutter mit ihrer Tasse Kaffee löschte. Was macht so eine Tat mit einer Tochter?! Brandwunden und eine wulstige Narbe bleiben ihr als Erinnerung, die sie später mit Tattoos zu überdecken versuchte, doch noch heute denkt sie oft an diesen Tag zurück:
Da war ich zwanzig, hatte aber immer noch Angst, an der besonders wulstigen Stelle am Oberarm berührt zu werden. In meiner Erinnerung macht meine Mutter in dem Moment, in dem sie ihre Zigarette an mir ausdrückt, ein irgendwie verzweifeltes, weltvergessenes, getriebenes Gesicht. Es war keine Wut, das spürte ich. Sie war nicht wütend, sondern irgendwie ohnmächtig. An diesen Gesichtsausdruck meiner Mutter dachte ich manchmal, wenn ich in der Bar saß und auf Kundschaft wartete.
Auch mit Klassismus werden wir in Die Gabe konfrontiert. Die Protagonistin fühlt sich nicht zugehörig zur Gesellschaft, hadert mit ihrer Rolle als S*xarbeiterin:
Es gibt wertvolle und weniger wertvolle Menschen auf der Welt, und wir gehörten zu jenen, die man gemeinhin wohl als weniger wertvoll bezeichnet, jede einzelne von uns.
Klar und präzise, fast schon sachlich erzählt Suzumi Suzuki eine Geschichte über Prostitution in Japan, weibliche Selbstbestimmung, Suizid, häusliche Gewalt, Klassismus, finanzielle Abhängigkeit und die Abgründe einer Muttter-Tochter-Beziehung.
Wichtige Themen, die man nochmal in einem anderen Licht sieht, wenn man weiß, dass die Autorin früher selbst im Rotlichtmilieu als S*xarbeiterin tätig war.
Ich hätte mir eine zweite Perspektive gewünscht und zwar die, der Mutter und damit auch eine Umfangserhöhung des Buches.
Die Gabe ist definitiv keine Wohlfühlgeschichte, aber sie behandelt Themen, die Aufmerksamkeit verdient haben.
Mich hat die Geschichte mit einem diffusen Gefühl zurückgelassen, dennoch bin ich dankbar ein weiteres Werk der japanischen Literatur zu meinen Leseerfahrungen zählen zu können. Denn die asiatische und besonders die japanische Literatur hat einen ganz besonderen Platz in meinem Bücherherz!
Triggerwarnung: Bitte überlegt Euch, ob Ihr gerade die psychischen Kapazitäten für diese Art Geschichte habt! (Themen wie zuvor angesprochen Suizid, S*xarbeit, Drogen, Sucht, häusliche Gewalt)