Für maximale Verwirrung sorgt der Prolog bei mir. Die Aussage der unbekannten Person ist so irritierend, dass ich eine Pause einlegen muss. Ich bin nicht in der Lage, mir das Gelesene direkt bildlich vorzustellen. Nachdem ich mir bewusst Zeit für die Szenerie gelassen habe, finde ich einen logischen Zugang zu den Geschehnissen, auch wenn mir vieles davon noch Rätsel aufgibt.
Dann starte ich direkt in den ersten von fünf Teilen. Die Atmosphäre zieht mich direkt in ihren Bann und ich habe direkt Lust weiterzulesen, weil Henri Faber es schafft, meine Neugierde zu wecken und zu halten.
Mir fällt direkt auf, dass Locked in durchgängig in der Ich-Perspektive erzählt wird. Das erzeugt bei mir Nähe zu den einzelnen Charakteren, gleichzeitig ist mir bewusst, dass deren Erzählungen sehr subjektiv sind und mir dadurch eine komplexere Sicht auf die Ereignisse verwehrt bleibt. Allerdings hat der sehr persönliche und emotionale Stil der Figuren seinen eigenen Reiz und macht Locked in faszinierend.
Passend zu den Ich-Erzählern hat Henri Faber deren Sprachstil gestaltet. Ich kann sie sehr gut auseinanderhalten.
Kommissar Paul Maertens mit seiner ruppigen Art ist ein getriebener Mann. Seine Vergangenheit ist schmerzlich und der Verlust, den er erlitten hat, ist offenbar die Ursache für sein oft brüskes Vorgehen. Was genau ihn umtreibt, ist genauso ein Rätsel wie die Menschen, die aus unerklärlichen Gründen und ohne erkennbaren Zusammenhang in Heidelberg verschwinden.
Sein Erzählstil ist schnörkellos und direkt.
Professor Dr. Theo Linde, der brillante Neurowissenschaftler, wirkt mit seinem Bedürfnis, das Unmögliche möglich zu machen, ziemlich verschroben. Er erfüllt das Klischee eines klassischen Nerds, da er einzelgängerisch, undurchschaubar und versessen darauf ist, dass seine bahnbrechende Erfindung einen echten Mehrwert für die Wissenschaft darstellt. Obwohl Linde von den Fachkollegen belächelt wird, setzt Paul Maertens all seine Hoffnung in dessen Erfindung. Denn mithilfe des Neuro Hubs kann Linde von Patienten mit dem Locked-in-Syndrom einfache Ja / Nein Antworten erhalten.
Dies ist wichtig für Paul Maertens, denn er ist schuld daran, dass der ermittelte Täter nun im Wachkoma liegt.
Lindes Erzählstil ist gehoben und von einer gewissen Poesie durchzogen. Dennoch wirkt er manchmal ein wenig zerstreut auf mich, sodass ich seiner Erzählung kritisch gegenüberstehe.
Richtig spannend finde ich die Ich-Erzählstimme des unbekannten Mannes im Verlies. Er weiß weder wer er ist, noch wie er in diese unglückliche Lage kommen konnte. Das macht seine Emotionen roh und aufwühlend. Seine Verzweiflung dringt durch jede Zeile und ich folge gebannt, wie er versucht, sich gegen den aufkommenden Wahnsinn zu stemmen.
Ich spekuliere viel, wer der Unbekannte sein könnte.
Ein wenig vermisse ich die Perspektive des Wachkomapatienten. Da der Thriller Locked in heißt und sich zu Beginn auch das Thema darum dreht, hätte mich besonders diese Innenansicht interessiert. Diese bleibt jedoch aus. Leider verliert sich im späteren Verlauf auch der Fokus vom Locked-in-Syndrom und macht Platz für andere Themengebiete. Das finde ich ein wenig schade, kann aber nachvollziehen, weshalb sich Henri Faber dafür entschieden hat.
Die Perspektivwechsel erfolgen rasch und durch die kurzen Kapitel entsteht ein hohes Erzähltempo. Das komplexe Geflecht aus verschiedenen Ereignissträngen ist herausfordernd, aber auch sehr spannungsvoll. Locked in lebt von seiner atmosphärischen Spannung und wird besonders durch die Verzweiflung, die alle Erzählenden fest im Griff hält, richtig packend.
Interessanterweise fließen die Gedanken und Erinnerungen der Erzählenden ineinander über, was manchmal für einen nicht linearen Handlungsfaden sorgt. Wiederholungen verstärken die bedrückende Atmosphäre, allerdings gibt es manche Passagen, die ich nicht zwingend noch mal in Dauerschleife lesen müsste.
Bis etwa zwei Drittel von Locked in bin ich fasziniert von dem Handlungslabyrinth, in das mich Henri Faber geschickt hat. Überraschende Wendungen und geschickt platzierte Perspektivwechsel laden mich zum Spekulieren ein. Oft liege ich daneben, doch bei ein paar Punkten bin ich mir ziemlich sicher, wohin sie führen.
Ich folge den Charakteren fasziniert und empfinde auch die Nebencharaktere als Bereicherung. Viele verschiedene Schauplätze und Ereignisse machen Locked in erlebbar und sogar realistisch.
Bis Henri Faber zu viele Plottwists aufeinanderfolgen lässt. Er dreht immer weiter an der Spannungsschraube, bis sie schlussendlich überdreht ist und meine Begeisterung sich für Locked in trübt. Ab dann wird es abgedreht und teilweise wirklich absurd. Hier musste mit Macht noch eins draufgesetzt werden, was ich unendlich schade finde.
Locked in ist ein mitreißender Thriller, der gut durchdacht und umgesetzt wurde. Der Schluss macht die Geschichte zwar rund, kann mich aber schlussendlich nicht gänzlich überzeugen.
Fazit:
Locked in ist eine psychologisch raffinierte Reise durch die Psyche von Männern, die aus unterschiedlichen Gründen von der Verzweiflung angetrieben werden. Der literarische Thrill mit einer dichten Atmosphäre weiß zu überzeugen. Ein paar Plottwists am Ende hätten Locked in jedoch wesentlich besser getan.