Christine Wunnike entführt ihre Leserschaft in das vorrevolutionäre Paris des 18. Jahrhunderts. Noch herrscht Ludwig XV. (1710-1774) und seine Entourage, die dann von Ludwig XVI. (1754-1793) sowie von der Revolution 1789 und der Schreckensherrschaft abgelöst werden. Doch es ist nicht das Königshaus, das hier im Mittelpunkt steht, sondern zwei Frauen, die sich lange vor der politischen Revolution revolutionär verhalten: Marie Bihéron (1719-1795) und Madeleine Basseporte (1701-1780).
Die beiden Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, begegnen einander bei einem Malkurs, den Bassporte für Mädchen gibt, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Während die meisten Schülerinnen sich mit zarten Blumenornamenten und Bordüren plagen, zeichnet jugendliche Marie Bihéron innere Organe, die sie zuvor gekauften Leichen entnommen hat. Marie will Anatom werden und zwar der beste.
Schnell erkennen beide, dass in den anatomischen Zeichnungen Maries wahre Begabung liegt. Dann verlegt sich Marie auf die Herstellung von anatomischen Wachsmodellen, sogenannte Moulagen. Das Mekka der Erzeugung dieser Modelle liegt in England, wohin Marie auch mehrmals reist. Während Marie ihre originalgetreue anatomische Moulagen an Wissenschaftler und an die Königin verkaufen kann, wird Madeleine Gartengestalterin bei den Bourbonen. Sie korrespondiert mit dem schwedischen Forscher und Botaniker Carl von Linné (1707-1778), der ihre detailgetreuen Abbildungen schätzt.
Aus der Lehrerin/Schülerin-Beziehung ist schon längst ein gleichgeschlechtlich liebendes Paar geworden, das mehr oder weniger unbehelligt zusammenlebt. Männer kommen in diesem historischen Roman selten vor. Und wenn, dann in Nebenrollen. So begegnen wir dem jugendlichen Dichter Denis Diderot (1713-1784) oder den Mitgliedern der Académie des sciences, die Frauen weder fördern noch in ihrer Mitte haben wollen.
Die Geschichte der beiden Frauen wird in zwei Ebenen erzählt. Neben der Zeit, die sie miteinander verbringen, erfahren wir auch einiges über das Leben der alternden Marie Bihéron in den Jahren nach Madeleine Basseportes Tod 1780, die durch die Revolution von 1789 die bisherige Ordnung über den Haufen wirft.
Hier wundert es mich doch ein wenig, dass Marie Bihéron die Jahre der Terrorherrschaft der Jakobiner, die erst mit der Hinrichtung von Maximilien Robespierre 1794 ihr Ende findet, überlebt hat.
Wer Moulagen in natura sehen will, so kann man die in zahlreichen Museen sehen. Darunter in der Berliner Charité oder rund 200 Stück im Josephinum im Wien, das von Kaiser Joseph II. als Ausbildungsstätte für Militärärzte gegründet worden ist.
Fazit:
Dieser historische Roman, der die wahrlich revolutionären Lebensgeschichten zweier Frauen im vorrevolutionären Frankreich beschreibt, hat mir sehr gut gefallen. Von mir aus hätte er gerne ausführlicher sein können, trotzdem erhält das Buch 5 Sterne.