Nach ihrem vielbeachteten Debütroman Das Schweigen des Wassers legt Susanne Tägder mit Die Farbe des Schattens eine ebenso fesselnde wie atmosphärisch dichte Fortsetzung ihrer Krimi-Reihe vor. Im Mittelpunkt steht erneut der ehemalige Hamburger Kriminalhauptkommissar Arno Groth, der nach Jahren im Westen in seine ostdeutsche Heimatstadt Wechtershagen zurückgekehrt ist und einen komplexen Mordfall lösen muss.
Tägders eindrucksvolle Darstellung der Ambivalenzen einer Gesellschaft inmitten des Umbruchs und sozialen Spannungen der Nachwendezeit machen den Roman nicht nur zu einem packenden Kriminalfall, sondern auch zu einem nachdenklich stimmenden und authentischen Gesellschaftsporträt.
Wenige Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung verschwindet Anfang 1992 in der tristen Plattenbausiedlung Mönkeberg der elfjährige Matti Beck auf dem Weg zum Einkaufen spurlos. Trotz einer großangelegten Suchaktion tappen die Ermittler lange im Dunkeln. Durch Zufall stößt Hauptkommissar Arno Groth auf eine Verbindung zu einem ungelösten Mordfall aus der DDR-Zeit, der einst von seinem früheren, wegen Stasi-Verdachts suspendierten Kollegen Gerstacker bearbeitet wurde. Mit der neu gegründeten Einsatzgruppe Nachtschatten beginnt Groths Team, hinter die Fassade des Mönkebergviertels zu blicken und entdeckt dunkle Geheimnisse, die die schwelenden Ängste und Abgründe der Wendezeit eindrücklich offenlegen.
Mit ihrem eindringlichen, fesselnden Schreibstil und der atmosphärisch dichten Darstellung der schwierigen sozialen Verhältnisse, zerrütteten Familienbeziehungen und menschlichen Schicksale gelingt es Tägder hervorragend, eine subtile Spannung aufzubauen und uns immer tiefer in das aus wechselnden Perspektiven geschilderte Geschehen zu ziehen. Unweigerlich beginnt man mit Groth und seinem Team mitzufiebern, verfolgt aufmerksam die kleinen Ermittlungserfolge und beginnt eigene Spekulationen über Tat und mögliche Hintergründe des Kriminalfalls anzustellen.
Sehr facettenreich und authentisch fängt die Autorin nicht nur die besondere Atmosphäre der Nachwende-Ära im Osten ein, die geprägt ist von einer allgegenwärtigen Mischung aus Unsicherheit, Misstrauen, Perspektivlosigkeit und Zukunftsangst, sondern auch die Zerrissenheit einer Gesellschaft, die nach Jahrzehnten der Teilung allmählich wieder zusammenfinden muss.
Tägder überzeugt sowohl durch die psychologische Tiefe, mit der sie ihre Figuren zeichnet, als auch durch die geschickte Einbettung ihrer Handlung in den historischen Kontext der Nachwendezeit. Mit feinem Gespür für individuelle Traumata und die kollektiven Verletzungen einer im Umbruch befindlichen Gesellschaft macht sie deutlich, wie eng persönliche Schicksale und gesellschaftliche Entwicklungen miteinander verwoben sind.
Ein besonderes Highlight des Krimis sind die facettenreich und glaubwürdig gezeichneten Charaktere, die mit all ihren Stärken und Schwächen sehr lebensnah wirken. Insbesondere Groth überzeugt als sensible und sympathische Hauptfigur, die trotz ihrer professionellen Kompetenz immer wieder von Zweifeln, persönlichen Traumata und Versagensängsten geprägt ist nicht zuletzt durch den enormen öffentlichen Druck, den Fall möglichst schnell zu lösen. Beeindruckend ist Groths behutsamer Ermittlungsstil sowie sein einfühlsamer und respektvoller Umgang mit Kollegen und Zeugen.
Auf der verzweifelten Suche nach Gerechtigkeit gelingt es Groth und seinem Team zunehmend, der allgegenwärtigen Atmosphäre von Orientierungslosigkeit, Gewalt und Rechtlosigkeit entgegenzutreten. Dabei durchdringen sie nach und nach die Mauer aus Schweigen, Misstrauen und Verdrängung, die das Umfeld des Falls zu umgeben scheint. Die Autorin gewährt uns tiefgehende Einblicke nicht nur in die äußeren Verhältnisse, sondern auch in das Innenleben, die Verletzlichkeiten und inneren Dämonen ihrer Figuren vom wachsenden Misstrauen der Anwohner über die Radikalität der Jugendlichen bis hin zur Suche nach Halt in einer sich schnell verändernden Welt.
Sehr gelungen ist auch die alleinerziehende Taxifahrerin Ina Paul, die selbst verfolgt von den Schatten ihrer Vergangenheit ist, und als Nebenfigur schließlich einen wesentlichen Betrag zur Aufklärung des Falls liefert.
Durch geschickt gesetzte Perspektivwechsel und überraschende Wendungen baut die Autorin eine subtile, beständig anziehende Spannung auf. Das sich zunehmend verdichtende Geschehen gipfelt schließlich in einem packenden Finale. Die Auflösung des Falls überzeugt durch ihre Glaubwürdigkeit und regt zum Nachdenken über Fragen von Schuld, Wahrheit und Selbstbetrug an. Besonders eindrucksvoll zeigt die Geschichte, wie eng Verbrechen, die Schatten der Vergangenheit und gesellschaftliche Umbrüche oft miteinander verknüpft sind.
Neben der kriminalistischen Spannung bietet der Fall sehr eindrucksvoll auch eine tiefgründige Reflexion über menschliche Verstrickungen und moralische Ambivalenzen. Das von Tägder geschaffene, vielschichtige Psychogramm führt uns vor Augen, wie komplex und tragisch menschliche Abgründe bei der Aufarbeitung von Schuld und Wahrheit sein können.
FAZIT
Ein tiefgründiger und psychologisch vielschichtiger Kriminalroman zur Nachwendezeit!
Eine überzeugende, sehr nachdenklich stimmende Fortsetzung der Krimi-Reihe - mit lebensnahen Figuren und facettenreichem Gesellschaftsporträt der Nachwende-Ära.
Empfehlenswert für alle, die neben der Spannung auch Tiefgang und historisches Flair mögen.