Linn Ullmann ist als Scheidungskind weltberühmter Eltern groß geworden. In Die Unruhigen erkundet sie die Sommerwochen bei Ingmar Bergman und die Restzeit bei der ewig hadernden Liv Ullmann. Bis der Vater als seniler alter Mann stirbt. Die Mutter nennt das Buch zurecht ein Meisterwerk. Zwischen interressantem Teilzeit-Vater und kämpfender Alltags-Mutter beschreibt sie ihr Leben als Tochter von Regisseur Ingmar Bergmann und Schauspielerin Liv Ullmann. Am besten man wüsste bis zum Ende nicht dass hier ein weltberühmtes Elternpaar von der Tochter mit Erinnerungen an eine zerissene Kindheit vorgestellt wird. Als Rettung vor dem Schlüsselloch gucken. Wie die Norwegerin Linn Ullmann diese schwer zu unterdrückende Form von Neugier fast vergessen macht, ist Teil ihrer Meisterschaft in Die Unruhigen mit Ingmar Bergman, der in Cannes zum besten Filmregisseur aller Zeiten gekürt, der kaum minder berühmten Schauspielerin Liv Ullmann und sich selbst als Hauptpersonen. Sich lässt sie abwechselnd als ich und sie auftreten. Die Autorin schafft auf den knapp 400 Seiten das ganz Schwere: Man klappt das Buch zu als fesselnde, nachdrücklich und zugleich unsentimentale, auch witzig zum Nachdenken über die eigene Geschichte anregende Meditation zum alle prägenden und immer komplexen Verhältnis zwischen Kindern und Eltern. Ist alles so passiert oder auch ausgedacht? In diesem Fall kennt alle Welt den Rahmen: Der große Ingmar Bergman und die schöne Liv Ullmann, so sieht es die Welt eben, verliebten sich bei Dreharbeiten 1965. Die Tochter kam ein Jahr später zur Welt und konstatiert nüchtern über ihren damals 48 jährigen Vater: Ein Kind mehr oder weniger. Er hatte acht als dämonischer Regisseur und als Schürzenjäger bekannt. Die Beziehung zur 21 Jahre jüngeren Mutter hielt, bis die Tochter drei war. Zu den Vereinbarungen des weiter zusammenarbeitenden und lebenslang befreundeten Ex-Paares gehörten jedes Jahr ein paar Sommerwochen für Tochter Linn beim Vater auf der kleinen Ostseeinsel Färö, wo der Filmemacher 2007 gestorben ist. Ansonsten lebte natürlich auch dieses jüngste wie alle anderen Bergman-Kinder bei der Mutter. Eine endlose Reihe von Kindermädchen sowie auch eine kürzere, aber genau so wenig populäre mit Geliebten der Mutter zieht sich durch das Buch, wenn die Schauspielerin wieder zu Engagements in Ohio, New York oder Los Angeles unterwegs ist. Die Tochter wird vor Sehnsucht halb verrückt. Linn Ullmann erinnert sich im Buch an ihre Jahre als Elf- bis 15-jährige erst als vollkommen bedingungslos liebendes Kind, dann als Teenager mit den ersten sexuellen Erfahrungen und mit langsam weiterem Horizont auf der Suche nach einem Zuhause und festem Boden unter ihren Beinen. Eine Herkulesaufgabe ist das beim entrückten, mit unverrückbar festem Stundenplan am Künstlertum arbeitenden Sommer-Vater und der ewig unsicheren, mit sich hadernden, auch in den eigenen vier Wänden kräftig schauspielernden Mutter. Ein durch raffinierte Montagen und den zurückgenommenen, dabei aber unglaublich treffsicheren Grundton vollbrachtes Kunststück des Buches ist die Kombination der eigenen kindlichen Perspektive auf die nie gemeinsam erreichbaren Eltern mit dem erwachsenen Blick auf beide als Persönlichkeiten für sich. Wärme und das Streben nach Klarheit durch kühle Beobachtung widersprechen einander hier nicht. Der hochinteressante Teilzeit-Vater kommt ungleich besser weg als die immer mit den schnöden Alltagsproblemen kämpfende Vollzeit-Mutter. Er bekommt auch viel mehr Platz, denn Auslöser für dieses grandiose Erinnerungsbuch war ein gescheitertes Projekt der erwachsenen Tochter mit dem betagten Bergman. Er wollte eins über das Altwerden als harte Arbeit schreiben, fühlte sich aber schon zu schwach und vereinbarte eine Interviewserie mit der als Autorin bestens selbsständig etablierten Linn. Vom Scheitern auch dieses Vorhabens, weil Bergman zu schnell weiter abbaute, bis zu seinem noch mal von ihm selbst akribisch durchgeplanten Begräbnis auf Färö erzählt die Tochter im Wechsel mit den Kindheitsgeschichten und gibt Dialoge im Wortlaut wieder. Das bringt wieder einen gänzlich anderen Blick auf das Eltern-Kind-Verhältnis mit dessen fast zunehmender Umkehrung. Als sie den Plan endlich in die Tat umsetzen wollen, hat das Alter ihn in einer Weise eingeholt, die ihre Gespräche unvorhersehbar und unzusammenhängend macht. Die Autorin Linn Ullmann steht für Literatur, die voller Geheimnisse und Leben und dessen Unwägbarkeiten steckt. Die Unruhigen ist eine fesselnde Lektüre in einer klaren Sprache. Es zeigt, dass keiner so ist, wie er sich gibt. Jeder trägt sein inneres dunkles Verlies mit sich herum. Grandios erzählt in Vor- und Rückblenden ist dieser Roman gleichsam düster, traurig, emotional und hochspannend. Er zeigt diese Geschichte ist ein genreüberschreitender Roman über ein Kind, das es nicht erwarten kann, erwachsen zu werden, und Eltern, die am liebsten Kinder sein wollen, über Erinnerungen und Vergessen und die vielen Geschichten, die ein Leben ausmachen. Ein atmosphärisch dichter Familienroman von großer literarischer Tiefe. Jedes Mal, wenn wir uns unsicher gewesen wären, ob das, woran sie sich erinnerte, wahr ist, oder ob das, woran man sich erinnert, wahr ist, oder ob das, was geschah, auch wirklich geschah, oder ob wir überhaupt existieren, wären wir in der Lage gewesen, uns nebeneinanderzustellen und zu schauen. Eine fiktive Geschichte, was sie aber nicht weniger wahr macht. Natürlich ist es auch eine Geschichte über Beziehungen die zerbrechen und von Orten die man verlassen muss, so sehr man sie auch liebt. Rückblick und Lebenserkenntnis vereinen sich hier mit einer berührenden Geschichte. Zugleich ist es auch eine Liebeserklärung - und ein literarisches Meisterwerk. Großartig Linn Ullmann, ein wunderbares Buch.