Ich muss sagen, dass mich die Schlichtheit und die gleichzeitige Aussagekraft des Covers schon beeindruckt hatte. Das dargestellte Käfighaus hebt sich tatsächlich auch vom Einband ab, es scheint gestanzt zu sein. Auch die Schrift ist haptisch anders als der Rest des Covers, was dem Ganzen Tiefe verleiht. Sowohl Cover als auch Titel passen perfekt zu dieser wirklich abgründigen Geschichte.
"Liebes Kind" nahm mich sofort mit in eine Geschichte, die mich emotional direkt auf mehreren Ebenen ansprach. Erleichtert wurde dieser sehr gute Einstieg durch einen unkomplizierten Satzbau, der leichtgängig und angepasst auf die jeweilige erzählende Ich-Persönlichkeit mich mit in die Ereignisse zog, die von vielen Möglichkeiten an Grausamkeiten nur so strotze.
Gleich zu Beginn tauchten sofort eine Menge Fragen bei mir auf, es gab Ungereimtheiten, die mir wie ein Stacheln im Fleisch saßen. Die im Verlauf der Erzählungen jedoch nach und nach aufgedröselt und im Kontext eingebettet erklärt wurden.
Der Handlungsaufbau hatte eine unfassbare Sogwirkung, nicht nur weil zu Beginn schon wahnsinnig viel passierte und ich mit Details förmlich überschwemmt wurde. Nein, auch weil "Liebes Kind" mit seiner Geschichte dort ansetzte, wo die meisten Storys enden. Mit der Rettung des Opfers.
Doch was sich hier wie im ersten Stepp nach Befreiung anfühlte, verwandelte sich rasch in ein psychisches Grauen. Denn Romy Hausmann nahm mich mit zu Protagonisten, die traumatische Erlebnisse versuchten zu verarbeiten. Jeder auf seine eigene Art und mit dem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln.
Nehmen wir beispielsweise die Frau, die nach einem Verkehrsunfall im Krankenhaus als möglicherweise schon seit dreizehn Jahren vermisstes Opfer zu Bewusstsein kommt. Sie versucht in ihrem alten Leben wieder ihren Platz zu finden, sich frei zu fühlen und doch von Zwängen heimgesucht wird, die sie schwer belasten. Sie erzählte auf eindrückliche Art und Weise, was ihr zustieß in dieser abgelegenen Hütte im Wald, wer sie vorher war und wie sie krampfhaft versucht, das Geschenk des Überlebens anzunehmen. Mir fiel es nie schwer, Mitleid mit ihr zu haben, aber da war noch ein anderes Gefühl für sie da. Ich kann es schwer greifen, aber ihren Part fand ich von allen am spannendsten. Es berührte mich sehr wohl auch weil es aufzeigte, dass der eigene Kopf sehr wohl das schlimmste Gefängnis sein kann, was es gibt.
Oder nehmen wir den Vater Matthias, der seit 4.842 Tagen versucht das Schicksal seiner geliebten Lena aufzuklären. Der nichts unversucht lässt die Polizei zu animieren den Täter zu ermitteln und sein einziges Kind nach Hause zu holen. Matthias mit seiner Obsession war mir unsympathisch. Seine Egotouren kratzen an meinem Nervenkostüm und ich empfand den verzweifelten Vater als sehr anstrengend. Auch er nahm mich mit in seine eigene Vergangenheit und in seine Pläne für die Zukunft, die er gern ohne seine Frau Karin plante. Also kein Sympathieträger für mich und doch war er ein wichtiger Teil in dieser emotional sehr aufwühlenden Geschichte.
Und dann gab es noch Hannah. Ein Mädchen, dreizehn Jahre alt, die von ihrem Verhalten her dazu gar nicht passen wollte. Das Mädchen, das in derselben Hütte lebte wie die Frau, die alle nur Lena nennen. Doch Hannah war mir unheimlich. Ich mochte sie vom ersten Augenblick an nicht. Sie war ein anstrengender Charakter, der jedoch viel von den Ereignissen aus der Hütte erzählte. Aus ihrer Sicht, die geprägt war von artig sein, dem Drang, das eigene Wissen ungefragt weiterzugeben und aufzuzeigen, wie schön es doch dort war. In ihrem Zuhause.
Abgerundet wurde das Ganze von eingestreuten Zeitungsartikeln, die mit ihrer Sachlichkeit das Grauen auf eine andere Stufe hoben. Ihm wieder etwas mehr Distanz verliehen, nur um dann die Eindrücke der Icherzähler wieder ganz nah an mich heranzuholen und mich emotional darin zu verwickeln.
Alle Charaktere hatten Geheimnisse, die sich Stück für Stück entfalteten. Sie entwickelten sich unterschiedlich weiter, am stärksten war das für mich bei der Frau spürbar, am wenigsten bei Hannah. Aber es war genau richtig so und passte hervorragend ins Bild.
Die Grundidee war sicherlich nicht neu. Die Umsetzung durch seine verschiedenen Wendungen aber individuell. Nicht alles blieb unvorhersehbar, einige elementare Geschehnisse konnte ich ganz ohne Glaskugel gucken voraussagen. Das war nicht schlimm, weil der Weg dorthin nicht immer so war, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Dafür schockte mich Romy Hausmann mit der Enthüllung des Täters so sehr wie ihre Figuren. Ich war so überfahren davon, dass ich im ersten Moment das Monster nicht dem Namen zu ordnen konnte und ich hektisch im Buch zurückblätterte auf der Suche nach dem Augenblick, wo er das erste Mal meinen Weg kreuzte.
Oh ja, das Ende war grandios umgesetzt. Es ging noch tiefer, nahm mich mit in die Abgründe der Seelen aller und ließ mich mit dem Gefühl zurück, dass diese Geschichte leider gar nicht abwegig war. Genauso könnte sie sich jetzt gerade irgendwo in der Welt zutragen. Grauenhaft inszeniert ohne literweises Blutvergießen, nur mit der Macht psychologischer Gewalt und den Allmachtsfantasien eines einzelnen Individuums.
Fazit:
Ein Psychothriller, der in die finsteren Winkel der menschlichen Seele hinabführt. Jeder hat etwas zu verbergen, ein Geheimnis, welches sorgsam gehütet werden muss. Dramatisch und emotional erzählt.