Kinsella nimmt meine Hand in seine. Sobald er sie nimmt, merke ich, dass mein Vater kein einziges Mal meine Hand gehalten hat, und ein Teil von mir will, dass Kinsella mich loslässt, damit dieses Gefühl vergeht. Es ist ein hartes Gefühl, aber als wir weitergehen, beruhige ich mich und lasse den Unterschied zwischen meinem Leben zu Hause und dem, das ich hier führe, auf sich beruhen.
INHALT:
Eines Tages fährt ein Vater seine Tochter (vermutlich im Grundschulalter) an einem Sonntag nach der Frühmesse zu fernen Verwandten.
Dort soll sie den Sommer verbringen. Denn die Mutter ist wieder schwanger, hat viel zu tun und muss sich außerdem um die zahlreichen Geschwister kümmern.
Der Vater trinkt und setzt seine Hoffnung auf Glücksspiele.
Die Familie hat nicht viel, gibt der Tochter keine frische Kleidung mit auf den Weg und verabschiedet sich auch nicht von ihr.
So kommt das Mädchen zu John und Edna Kinsella, die sie liebevoll bei sich aufnehmen. Und nach und nach erlangt ihre Pflegetochter auf Zeit immer mehr eine Ahnung davon, wie Familie sein kann, wenn einem Zuwendung, Zuneigung und Wertschätzung entgegengebracht wird
MEINUNG:
Es gibt diese Bücher, die nicht viele Seiten benötigen, mit wenig Handlung auskommen und einen trotzdem nachhaltig berühren und zum Nachdenken anregen.
Wenn man sich nach dem Lesen nur schwer von der Geschichte lösen kann und sie am liebsten direkt erneut verschlingen würde, dann hat die Autorin wohl alles richtig gemacht!
Das dritte Licht kommt auf leisen Sohlen daher. Es geschieht nicht allzu viel in der schmalen Erzählung. Die Handlung, die sich um diesen einen Sommer bei den Kinsellas dreht, ist schnell erzählt, weshalb ich gar nicht näher darauf eingehen möchte, um nichts vorwegzunehmen.
Lesende dennoch so nachhaltig an die Protagonistin binden zu können, zeugt meiner Meinung nach von großer Erzählkunst.
Besonders bewegt hat mich, wie das Mädchen zu seinen Pflegeeltern eine immer stärkere Beziehung aufbaut und dabei feststellen muss, was ihr in ihrer Familie zu Hause eigentlich fehlt. Und auch John und Edna, die ein trauriges Geheimnis mit sich tragen, wächst die Pflegetochter sehr ans Herz.
,Sieh mal, wo vorher nur zwei Lichter waren, sind jetzt drei.
Ich blicke übers Meer. Dort blinken nach wie vor die beiden Lichter, doch dazwischen leuchtet jetzt auch noch ein anderes, stetiges Licht.
,Kannst du's sehen?, fragt er.
,Ja, sage ich. ,Da drüben.
Da legt er die Arme um mich und zieht mich an sich, als wäre ich sein eigenes Kind.
Die Geschichte wird aus der Perspektive des Kindes erzählt. Authentisch und besonders schön fand ich die wenigen kindlich-naiven oder aus Unkenntnis hervorgehenden Sätze des Mädchens (z. B. meint sie an einer Stelle, dass die Bäume krank seien, da die Zweige am Boden schleifen würden dabei handelt es sich jedoch um Trauerweiden). Davon hätten es für mein Empfinden gerne noch ein paar mehr sein dürfen.
Der Schreibstil hat mir gut gefallen. Claire Keegan schafft es mit wenigen Worten, viel zu erreichen und auszulösen. Dabei überlässt sie immer wieder den Lesenden die Deutung ihrer Sätze. So auch am Ende mit einem Schluss, welcher recht offen bleibt und mich noch immer beschäftigt.
FAZIT: Dies war bestimmt nicht mein letztes Buch der Autorin! Claire Keegan gelingt auf leisen Sohlen & auf wenigen Seiten eine kraftvolle Erzählung über Familie und Zusammengehörigkeit, die berührt und noch lange nachhallt. 4,5/5 Sterne und eine klare Empfehlung!