In Urlaub vom Patriarchat reist die Journalistin Friederike Oertel in eine der letzten matriarchalen Gesellschaften der Welt nach Juchitán in Mexiko auf der Suche nach einer Alternative zum patriarchalen Alltag. Oertel, 1991 in Dresden geboren, ist ausgebildete Reporterin, studierte Literatur- und Kunstwissenschaftlerin und arbeitet heute bei der ZEIT. Für ihre feinsinnigen, tief recherchierten Reportagen wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Dies ist ihr erstes Buch und es ist alles andere als gewöhnlich.
Worum gehts genau?
Erschöpft vom ständigen Funktionieren in einem patriarchal strukturierten Alltag, entscheidet sich Oertel für einen radikalen Perspektivwechsel: Sie reist nach Juchitán, einer mexikanischen Stadt, die als Matriarchat gilt. Hier bestimmen Frauen die Wirtschaft, erben Eigentum, verwalten das Geld und prägen das soziale Gefüge. Die sogenannten Muxe, ein drittes soziales Geschlecht, sind selbstverständlich in die Gesellschaft integriert. Es ist eine Welt, die zunächst utopisch anmutet und sich bei näherem Hinsehen als vielschichtig und nicht frei von Widersprüchen entpuppt.
Oertel beobachtet nicht nur die Gesellschaft vor Ort, sie reflektiert auch ihre eigene Prägung, ihre Zweifel, Ängste und die tief verwurzelten Geschlechterbilder, mit denen sie aufgewachsen ist. Sie erzählt von der diffusen, oft unbewussten Angst, als Frau im öffentlichen Raum Gewalt zu erfahren. Vom internalisierten Zweifel an der eigenen Intelligenz, der schon mit sechs Jahren beginnt. Von einer Kindheit zwischen Bravo Girl, Scham über Körperbehaarung und widersprüchlichen Erwartungen an Weiblichkeit. Und vom weiblichen Mut, der gesellschaftlich oft nicht belohnt, sondern als unbequem wahrgenommen wird.
Meine Meinung
Ich habe selten ein Sachbuch gelesen, das so persönlich und analytisch zugleich ist. Oertel schafft es, ihre Reise nicht als exotisierenden Erlebnisbericht zu inszenieren, sondern als vielschichtigen Spiegel: für eigene Rollenmuster, strukturelle Ungleichheiten und die Grenzen feministischer Utopien. Besonders stark empfand ich die Passagen, in denen sie weibliche Sozialisation beschreibt wie früh Mädchen lernen, sich selbst zu unterschätzen, wie die Ideale von Weiblichkeit durch Medien internalisiert werden und wie Mut bei Frauen noch immer als Provokation statt als Tugend gilt.
Ihr Blick auf Mut als Handlung, nicht Gefühl und die kritische Einordnung der eigenen Perspektive als weiße Europäerin, zeigen Reflexionsniveau und Sensibilität. Dass sie die Idee des Matriarchats nicht verklärt, sondern differenziert betrachtet, ist ein großer Pluspunkt. Auch das Thema Mutterschaft, das sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, fand ich äußerst klug bearbeitet: Wie sehr wird Frausein noch immer mit Muttersein verknüpft? Und wie sehr werden Frauen, die sich bewusst dagegen entscheiden, pathologisiert?
Ein Gewinn war für mich auch die ehrliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper mit Scham, Leistungsdruck, Unsicherheit. Ich habe mich an vielen Stellen wiedererkannt. Ebenso beeindruckend war der Abschnitt über neurobiologische Erkenntnisse zur Fürsorge die zeigen: Elternschaft ist keine Frage des Geschlechts, sondern der Beziehung. Dass Oertel diese wissenschaftlichen Erkenntnisse mit persönlichen Erfahrungen verbindet, ohne belehrend zu wirken, macht den besonderen Stil des Buches aus.
Trotz allem bleibt ein leichtes Unbehagen: Manchmal wirkte Oertels Selbstreflexion fast zu kontrolliert, zu literarisiert. Die Emotionalität, die sie beschreibt etwa die Angst oder das Weinen aus Wut kommt sprachlich oft gebändigt daher. Auch hätte ich mir an manchen Stellen etwas mehr Tiefe gewünscht, gerade wenn es um die Perspektiven der Menschen vor Ort ging. Die Einbindung ihrer Sichtweisen bleibt punktuell vielleicht, weil Oertel sich der Gefahr des kolonialen Blicks bewusst ist. Dennoch: Hier hätte ich mir noch mehr Stimmen, noch mehr Kontraste gewünscht.
Fazit
"Urlaub vom Patriarchat" ist ein wichtiges, mutiges und kluges Buch, das viele Fragen stellt, ohne vorschnelle Antworten zu geben. Es regt zum Nachdenken an über Geschlechterrollen, gesellschaftliche Machtverhältnisse und die Konstruktion von Normalität. Für eine Höchstwertung fehlt mir stellenweise die Tiefe deshalb: 3,5 von 5 Sternen.