Es ist mittlerweile fast ein Jahrzehnt her, dass Édouard Louis mit seinem Debüt Das Ende von Eddy in die literarische Öffentlichkeit trat und als außergewöhnliche Stimme einer neuen Generation französischer Autoren gefeiert wurde. Seitdem hat er mit seinen autofiktionalen Büchern unermüdlich das Terrain der eigenen Herkunft ausgeleuchtet und dabei die sozialen, ökonomischen und familiären Strukturen seziert, die ihn prägten. Mit Der Absturz legt Louis nun das vorläufig letzte Kapitel dieses Projekts vor. Im Zentrum steht diesmal sein älterer Bruder, dessen Leben von Anfang an von Scheitern und Selbstzerstörung gekennzeichnet war.
Der Roman setzt mit einer Nachricht ein: Sein Bruder ist tot, keine vierzig Jahre alt, gestorben an den Folgen einer ungebremsten Alkoholsucht und des über Jahre misshandelten Körpers. Die Brüder hatten längst keinen Kontakt mehr, ihre Wege hatten sich auseinanderentwickelt, seit Louis der Enge seiner Kindheit entkommen war. Doch der Tod fungiert als Auslöser, um literarisch den Spuren dieses verlorenen Lebens nachzugehen. Louis begibt sich abermals in die Abgründe seiner Familie, deren Zerrissenheit die Leser aus den Vorgängerbänden bereits kennen, und fragt, inwiefern der Niedergang seines Bruders durch die Herkunft geradezu vorbestimmt war.
Die Schilderungen der von Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit geprägten Kindheit sind zwar bekannt, wirken aber dennoch erschütternd. Louis gelingt es, diese Hintergründe nicht als bloße Entschuldigung für das Verhalten des Bruders darzustellen. Vielmehr arbeitet er heraus, welche persönlichen Entscheidungen, welche verpassten Chancen und welche zwischenmenschlichen Konstellationen den Absturz zusätzlich befeuerten. Dadurch bleibt die Erzählung ambivalent: Der Bruder erscheint als Täter und Opfer zugleich, verstrickt in eine Spirale aus Selbsthass, Aggression und gleichzeitiger Sehnsucht nach Nähe.
Charakteristisch für Louis ist der distanzierte Blick, mit dem er diese Familiengeschichte beschreibt. Als Autor in Paris hat er die sozialen Verhältnisse, aus denen er stammt, hinter sich gelassen. Doch die Vergangenheit lässt ihn nicht los, sie drängt sich immer wieder in sein Leben und zwingt ihn, sich ihr zu stellen. Diese Spannung zwischen Distanz und Verbundenheit ist das Fundament einer literarischen Reflexion, die den Bruder in all seiner Widersprüchlichkeit zeigt: brutal und voller Hass, aber auch zuweilen komisch, ja sogar liebevoll. Die Unvereinbarkeit dieser Facetten bleibt bestehen und prägt den Roman bis zuletzt.
Wie gewohnt schreibt Louis in einer Sprache, die frei von schmückendem Beiwerk ist. Er notiert Erinnerungen, Beobachtungen und Wertungen in einem direkten, fast dokumentarischen Stil. Gerade diese Unverblümtheit erzeugt Authentizität, aber auch Beklemmung. Der Absturz wirkt wie eine Anklage, nicht nur gegen eine Gesellschaft, die bestimmte Lebenswege von vornherein ausschließt, sondern auch gegen individuelle Haltungen, die den eigenen Untergang beschleunigen.
Louis Bücher sind nie versöhnlich. Sie sind hart, rücksichtslos, und sie legen schonungslos die dunklen Seiten des Menschseins offen. Nach der Lektüre bleibt ein schales Gefühl zurück, ein Zweifel daran, ob Hoffnung in solch tristen Welten überhaupt möglich ist. Der Bruder steht exemplarisch für diese Grausamkeit: er ist sowohl Produkt als auch Mitgestalter einer Realität, die keinen Ausweg zulässt.
Am Ende bietet Louis keine endgültige Deutung, keine klare Botschaft. Wie schon in seinem Debüt entlässt er die Leser ratlos und gerade darin liegt die Konsequenz seines Schreibens. Der Absturz ist ein würdiger Abschluss seines autobiografischen Projekts, nicht weil dieser Band als Finale inszeniert ist, sondern weil er erneut zeigt, dass Menschen nicht auf eine eindeutige Formel von Gut oder Böse zu bringen sind.