"Eine Geschichte, die niemand erzählt, stirbt."
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INHALT:
Nemonte Nenquimo wächst im Regenwald Ecuadors im Stamm der Waorani heran. Hier lebt sie mit ihrer Familie im Dorf Toñampare im Einklang mit der Natur, mit den Tieren, Pflanzen sowie mit dem Wissen und den Geheimnissen ihrer Ahnen.
Sie vertrauen auf die Kräfte der Schamanen und Pflanzen, auf die Weisheit und Erfahrung der Ältesten und sie spüren die Seelen ihrer Vorfahren, die als Geisterjaguare in den Wäldern leben und dort zu ihnen sprechen.
Gleichzeitig wird das Dorf seit Jahren von einer weißen, christlichen Missionarin geleitet, die aus der Zivilisation stammt und die Einwohner mit Geschenken lockt, oder ihnen medizinische Hilfe anbietet, wenn sie im Gegenzug sonntags ihren Gottesdienst besuchen.
Rachel verabscheut deren indigene Kultur, versucht die Menschen zum christlichen Glauben zu führen, ihnen Kleidung und christliche Namen aufzudrängen, sie von ihren Traditionen und ihrer spirituellen Lebensweise zu trennen, damit sie "Erlösung" finden können.
Dass vor Jahren so viele der Leute an Polio gestorben sind, war ihrer Meinung nach der Zorn und die Strafe Gottes für den fehlenden Glauben an "Wengongi" den Gott der Christen.
Mit 14 Jahren verlässt Nemonte zum Missfallen ihrer Familie, das erste Mal den Regenwald, besucht eine christliche Schule und wird schließlich zur Mission ausgebildet. Doch dabei gerät sie an weiße Christen, die ihr im angeblichen Namen Gottes viel Leid zufügen.
"Gott hatte bestimmte Vorstellungen davon, wie ich sein sollte. Er wollte, dass ich es ihm recht machte, und wenn ich mich weigerte, belehrte mich das Paddel eines Besseren."
"Den Großteil meines Lebens war ich den weißen Leuten gefolgt. Ich hatte mir für sie die Zähne rausreißen lassen. Ich hatte mein Zuhause für sie verlassen. Sie hatten Hoffnungen und Träume in mir geweckt und mich gebrochen zurückgelassen."
Nemonte sehnt sich immer mehr nach der Geborgenheit ihrer Familie und nach dem gewohnten Leben im Regenwald zurück. Aber würden ihre Eltern sie überhaupt zurücknehmen, nachdem sie solche "Schande" über sie gebracht hatte?
Schließlich folgt Nemonte dem Ruf ihrer Ahnen, setzt sich für ihr Volk ein, wird Anführerin des Stammes der Waorani, findet ihre Berufung und wird zur erfolgreichen Aktivistin, die gegen mächtige Ölkonzerne kämpft, welche Kriege auslösen, die Gewässer vergiften und den Regenwald zerstören.
"Die Weißen zerstören den Wald, weil sie ihn nicht kennen (...). Es ist leicht, etwas zu zerstören, über das man nichts weiß."
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MEINUNG:
Wow, was für ein intensives Buch, was für eine starke Frau, was für eine eindrückliche, autobiografische Geschichte!
Es fällt mir schwer, hier die richtigen Worte zu finden.
Zu Beginn lernt man erst einmal etwas über die Lebenswelt der indigenen Waorani kennen. Da ich vorher noch nie etwas über sie gelesen hatte und sie so fernab von jeder Zivilisation leben, fand ich dies sehr interessant, auch wenn der Spannungsbogen hier etwas geringer ausgeprägt ist.
Mit der Zeit erfährt man immer mehr über ihre Kultur und Traditionen.
Man spürt das Misstrauen der Einwohner gegenüber den Weißen. Verständlich, nachdem so viele von ihnen vor Jahren getötet wurden und als ihnen die weiße Rachel eine andere Kultur und Religion aufzwingen möchte.
Diese Scheinheiligkeit und das Verhalten mancher Missionare, fand ich schmerzhaft, zu lesen.
Wie muss es sich anfühlen, wenn einem so vieles, was die eigene Identität betrifft, für schlecht empfunden und/ oder weggenommen wird?
Wie, wenn man als Mutter eines kranken Kindes damit erpresst wird, dass man nur Hilfe bekommen wird, wenn man dafür die Kirche besucht?
Wie, wenn die Abbildung des Teufels in der Sonntagsschule dem eigenen schwarzen Großvater ähnelt, während Gott weiß dargestellt wird?
Wie, wenn einem Angst vor einem zornigen und strafenden Gott gemacht wird?
Wie, wenn die eigenen Bemühungen nie genug sind?
Wie, wenn Missionare das Vertrauen junger Leute missbrauchen, Grenzen überschreiten, sich an Kindern vergehen und Gewalt als "Gottes Hand" rechtfertigen?
Mit der Zeit hatte ich immer mehr Mitgefühl für Nemonte und habe sehr mit ihr mitgefiebert. Ich konnte ihre Zerrissenheit spüren und ihr Wanken bzgl. ihrer Identität gut nachvollziehen.
("War es möglich, zwischen den Welten zu leben, zwischen den Sprachen, zwischen Vergangenheit und Zukunft?")
Umso bemerkenswerter ist die Entwicklung, die sie gegen Ende an den Tag legt, wie sie schließlich für ihre Wurzeln, Rechte und für die Erhaltung des Regenwaldes kämpft und wie sie sich für ihr Volk starkmacht.
Durch die vielen Wörter auf Wao Tededo, zahlreiche unbekannte Namen und Orte, Tiere, Pflanzen und andere Fremdwörter, war dies für mich kein Buch, das man eben mal durchliest. Eine Liste mit Erklärungen bzw. Übersetzungen wäre hilfreich gewesen.
Die Themen unter die Haut.
Man muss sich daher schon etwas Zeit für die Lektüre nehmen, aber es lohnt sich!
Die Aussagen und Gedanken der Protagonistin am Anfang entsprachen meinem Empfinden nach nicht denen einer 6-Jährigen - da bin ich immer empfindlich.
Doch das Buch enthält so viele starke Inhalte, dass ich darüber überwiegend hinwegsehen kann.
Ich musste mir immer wieder klarmachen, dass dies die reale Geschichte einer starken Frau darstellt und keine fiktive Handlung!
Das Leben schreibt oftmals die eindrücklichsten Geschichten!
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FAZIT: Eine unbedingte Leseempfehlung für eine wirklich starke, autobiografische Geschichte über das Leben zwischen zwei Welten, der heutigen Anführerin der indigenen Waorani! 4,5-5/5 Sterne und ein Jahreshighlight!
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C. N.: V. a. Se*ueller & religiöser Missb*auch, Bestrafung in Form von physischer Gewalt, Rassismus