Das Bändchen bietet viel mehr, als sein Untertitel verspricht. Schon die erste Annäherung macht klar, was viele Autoren ignorieren: Venedig war und ist ständig in Veränderung begriffen. Genau das macht es so interessant, Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Beziehung zu setzten. Der Autor verfällt aber nicht in das so weit verbreitete, romantisierende Lamento, er fragt: Möchten wir die komfortableren und klaren Verhältnisse des heutigen Zustandes missen? Diese Frage, meist ein zögerliches Nein provozierend, wird sich als Leitmotiv unseres Spaziergangs erweisen. (S. 27)
Auch mit zwei Karten (S. 11 und 83) macht der Autor anschaulich klar, was selbst seriöse und sonst sehr ordentliche wissenschaftliche Studien zu Venedig oft ignorieren: viele Bereiche der Stadt wurden erst im Laufe der Zeit zu bebaubaren Inseln aufgeschüttet, viele Kanäle später wieder zugeschüttet. Das sei zur allgemeinen Nachahmung empfohlen und jedem Leser sei so allgemein Skepsis angeraten: Wenn von der Vergangenheit Venedigs die Rede ist, gehört dazu nicht einfach als Veranschaulichung ein aktueller Stadtplan, sondern die Illustration der seither erfolgten Veränderungen. Wiedergaben alter Stadtpläne, Veduten, Stiche und Gemälde allein tun es nämlich nicht.
Auch stellt der Autor klar, aus welchen Quellen er - wie manch anderer Autor insgeheim - schöpft. Seltsamerweise meinen ja Verlage von Populärliteratur offenbar, Quellenangaben und Literaturhinweise seien meist überflüssig, wohl weil sie die Käufer ihrer Erzeugnisse ohnehin nicht für kompetent halten. Welch Armutszeugnis - nicht für die Leser, sondern für die Verlage! Das Buch spricht also auch positiv für den Verlag.
Weit über sein eigentliches Thema hinausgreifend und sich diesem annähernd, führt der Autor vom Bahnhof (der wird zu Recht offenbar einer Erwähnung nicht für würdig befunden) an das östliche Ende der Stadt und dann noch einmal kursorisch über die Geschichte der kleinen Inseln in der Lagune zur ja ehemals ebenso kleinen Insel Sant Elena hin.
Es ist wirklich schon lange überfällig, dass Sant Elena gewürdigt wird. Bei literarischen Berühmtheiten wie LORD BYRON, der in Venedig krampfhaft nach Zeichen des Verfalls suchte und hier hätte fündig werden können, oder THOMAS MANN kommt das alte Kloster nicht vor. Touristen kommen meist - wenn überhaupt - nur bis zum Gelände der Biennale. Apropos: Der größte Teil der auf Veranlassung von NAPOLEON angelegten Giardini pubblici wird von der Biennale beansprucht und ein Wort des Tadels dürfen wir nicht unterdrücken. Die Veranstalter der Biennale haben ihren Parkteil durch eine häßliche und ganz überflüssige hohe Mauer vom Rest von Sant Elena abgegrenzt ... Die Exponate lassen einen verständigen Menschen lachen, wenn er guter, und sich ärgern, wenn er schlechter Laune ist. (S. 89)
Ich kann nur empfehlen, das Buch in die Hand zu nehmen und sich am Fußballstadium vorbei (S. 105: Scheußlichkeit... ) nach Sant Elena führen zu lassen.