Dem westlichen Gesellschaftsmodell wurde bereits vor
u ber hundert Jahren der Untergang vorhergesagt. Erst
heute schwindet sein Einfluss tatsächlich. Aber haben
diejenigen, die am lautesten daru ber klagen, nicht selbst
die Saat fu r den längst unu bersehbaren Verfall gesät?
Dass die liberalen Demokratien der westlichen Welt zunehmend
unter Druck geraten, ist zu Recht häufig konstatiert worden. Neben
der wachsenden Macht autoritärer Staaten werden hierzulande
vor allem populistische Bewegungen dafu r verantwortlich gemacht.
Fu r Ferdinand Knauß greift diese Erklärung zu kurz. Er verfolgt
den Beginn des Niedergangs mehr als fu nf Jahrzehnte zuru ck: zum
Konflikt zwischen der Kriegsgeneration und ihren Kindern, den
Achtundsechzigern .
Denn die akademischen Tonangeber der Nachkriegsgeneration
forderten nicht nur die Aufarbeitung historischer Schuld, sondern
propagierten den Aufstand gegen das westliche Gesellschaftsmodell.
Obwohl dieser zunächst sein Ziel nicht erreichte, gelangten die
erklärten Gegner des Westens mit dem »Marsch durch die Institutionen
« an die Schaltstellen der Macht und beanspruchen seither die
Deutungshoheit: Liberale Demokratie soll nicht mehr als Regelwerk
einer pluralistischen Gesellschaft dienen, sondern als moralische
Blaupause zur Durchsetzung universeller Ziele ein Anspruch, der
zunehmend an der Realität zu scheitern droht.